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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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aus der Halterung und ging, mit dem Kabel kämpf end, ein paar Schritte Richtung Publikum. Ich richtete den Blick in die raunende Dunkelheit zu meinen Füßen und räusperte mich.
    »Ich weiß, was ihr denkt«, begann ich. Meine Stimme hallte durch den Raum. »Ihr alle fragt euch: Wer ist diese Person? Woher kommt sie, wo ist sie schon aufgetreten, warum kennen wir sie nicht?«
    »Genau, verrät’s uns«, rief jemand.
    »Ich werde es euch verraten. Bella Schrader ist keine bekannte Künstlerin. Genaugenommen ist sie überhaupt keine Künstlerin, sondern nur eine Frau mit einer ganz guten Stimme.«
    »Yeah«, johlte einer, und ein anderer rief: »Was soll das?«
    »Um euch die Wahrheit zu sagen: Dieser Auftritt ist der erste Auftritt meines Lebens. Ich bin eine stinknormale Hausfrau, und ich habe mein Leben lang davon geträumt zu singen. Und da habe ich beschlossen, es einfach zu tun.
    Ich habe kapiert, daß ich nur einmal lebe. Und daß jeder Traum, den ich mir nicht erfülle, eine vertane Chance ist.
    Und ich will euch noch was verraten: Es hat mich einen verdammten Scheiß-Mut gekostet, auf diese Bühne zu gehen! Und daß ich es geschafft habe, darauf bin ich stolz!«
    Die letzten zwei Sätze hatte ich laut ausgerufen. Ich drehte mich um und ging nach hinten ab. Rilke, Kim, Pit und Michel glotzten mir verdattert nach.
    Hinter der Bühne fiel ich auf die Bierbank und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Es war ganz still. Dann begannen ein paar Leute zu klatschen. Der Applaus steigerte sich zögernd, wurde lauter.
    »Bella, Bella!«, riefen einige, andere Rufer fielen ein, und schließlich brüllten zweihundert Leute meinen Namen.
    Rilke kam hinter die Bühne geschossen und zog mich von der Bank.
    »Los, komm!«
    Als ich die Bühne betrat, brüllten die Leute noch lauter.
    Ich verstand gar nichts mehr. Rilke reichte mir das Mikrofon und sah mich auffordernd an. »Try« flüsterte ich ohne nachzudenken.
    Die Band spielte die ersten Takte, und ich sang unter Tränen den wunderbaren Song, der als Motto über dem Leben von Janis Joplin stehen könnte und vielleicht auch über meinem. »Try … Just a little bit harder« Als ich geendet hatte, stolperte ich von der Bühne und fiel in die Arme von Lucy, die backstage auf mich wartete.
    Das Publikum tobte und schrie nach einer Zugabe.
    »Ich bin so stolz auf dich«, flüsterte Lucy.
    »Findest du mich nicht oberpeinlich?«
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Von deinem Mut kann sich jeder hier eine Scheibe abschneiden.«
    Ich drückte sie an mich.

    »Ich liebe dich, mein kleines, großes Mädchen.«

    Später in der Nacht lag ich wach und überdreht neben Rilke.
    Der hatte mich nach dem Konzert vor allen Leuten geküßt, und das war vielleicht das noch größere Glücksgefühl als die Gewißheit, meine Selbstachtung behalten zu haben.
    Auch Rilke schlief nicht, er lag auf dem Rücken und hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt. Die Fenster waren weit geöffnet, sommerliche Nachtluft strömte herein.
    Ich schmiegte meinen Kopf in seine Achselhöhle.
    »Sängerin werde ich also nicht mehr.«
    Rilke küßte mich aufs Ohr.
    »Nee, sieht nicht so aus. Aber ich fand dich trotzdem klasse.«
    Plötzlich mußte ich kichern.
    »Bella, die singende Hausfrau! So was haben die sicher in ihrem Leben noch nicht gesehen.«
    Viele Leute hatten mich angesprochen, mir auf die Schulter geklopft und mich beglückwünscht. »Hätte ich mich nie getraut«, hatte eine nett aussehende Frau mit wilden, roten Haaren gesagt. »Aber seit Jahren träume ich davon, mit dem Fallschirm abzuspringen. Und das mach ich jetzt!«
    Rilkes Blick wurde auf einmal abwesend. Er stand auf und setzte sich an seinen Computer. Ohne weiter auf mich zu achten, hackte er in die Tasten.
    Ich kannte das schon, wenn er einen Einfall hatte, vergaß er alles um sich her und haßte Störungen. Ich schlich aus dem Zimmer, holte mir in der Küche ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte mich ans Fenster und schaute auf die nächtliche Straße.
    Ein alter Mann mit einem Krückstock in der Hand zog, vor sich hinschimpfend, einen verfetteten Dackel hinter sich her. Jemand versuchte unaufhörlich, sein Auto in eine viel zu kleine Parklücke zu manövrieren.
    Ich dachte an zu Hause. Vor drei Tagen war Friedrich wieder eingezogen. Schweigsam und abweisend lief er seither durchs Haus, sein Blick ein einziger Vorwurf.
    »Und, wann ziehst du jetzt zu deinem Romeo?« hatte er einmal feindselig gefragt und das Thema danach nicht mehr

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