Am Dienstag sah der Rabbi rot
Schwierigkeit gleich nach Abschluss seines Examens den Posten des Assistant District Attorney übernehmen können. Er war Junggeselle und fand im Büro des District Attorney den ihm angemessenen Platz, den er gern behalten wollte. Obwohl mittelgroß, sah er wegen seiner Rundlichkeit klein aus. Seine maßgeschneiderten Anzüge wirkten zerknittert und schlecht geschnitten, weil er sich krumm hielt. Er trug altmodische, anknöpfbare, gestärkte Kragen, die immer zu eng aussahen und seinen Kopf größer wirken ließen, als er war. Er neigte zum Lächeln und kichernden Glucksen und hatte etwas Onkelhaftes, sodass bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sein Gesicht streng und ernst wurde, zum Beispiel, wenn er sich im Gerichtssaal an die Geschworenen wandte, jedermann das Gefühl bekam, es müsse tatsächlich ein entsetzliches Verbrechen geschehen sein. Er stand mit allen Gerichtsbeamten, Strafverteidigern und Richtern auf gutem Fuß, kannte ihre Eigenheiten und Idiosynkrasien, hatte aber gleichzeitig einen Instinkt für politische Erwägungen und war daher für eine Reihe von District Attorneys, die er unauffällig anlernte, von unschätzbarem Wert gewesen.
Jetzt trat er unter Rogers’ starrendem Blick unbehaglich von einem Bein aufs andere und stieß ein verlegenes Kichern aus. «Ja, einerseits ist es Privateigentum, andererseits aber nicht. Ein College ist genau genommen eine Gemeinschaft von Gelehrten, die sich in eine Gesellschaft mit einem Kuratorium und Beamten umgewandelt hat, die den Präsidenten wählen. Im Mittelalter wurden übrigens viele Colleges von den Studenten gegründet. Sie stellten die Lehrer ein und ließen sie Strafe zahlen, wenn sie ihre Vorlesungen versäumten. Ich will damit sagen, dass man sich überlegen muss, ob das College nicht ebenso den Studenten wie der Verwaltung gehört.»
Aber Rogers hatte nicht nachgegeben – und es ausbaden müssen. Ein paar Tage lang war alles großartig gewesen; er hatte Verlautbarungen an die Presse gegeben, war fotografiert worden, hatte Konferenzen mit dem College-Präsidenten und dem Dean abgehalten und mit der Polizei den strategischen Einsatz geplant. Das führte am Ende zu einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Studenten und Polizei, wobei es nicht bei verbalen Beleidigungen blieb. Und ganz plötzlich war er der Buhmann, die Zielscheibe von Dutzenden von wütenden Leserbriefen in der Presse und sogar von ein, zwei Leitartikeln. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass viele Lehrer zu den Studenten hielten und sogar die Verwaltung einen Rückzieher machte. Als schließlich die Anführer vor Gericht gestellt wurden, merkte er voller Entrüstung, dass die College-Verwaltung die Strafverfolgung nur sehr hinhaltend betrieb und sogar der Richter, der eine kleine Strafe verhängte, bei seiner Zusammenfassung andeutete, dass die Staatsanwaltschaft vielleicht etwas übertrieben reagiert habe.
Rogers war Politiker, und er zog eine Lehre daraus. Von da an folgte er, wann immer es zu Studentenunruhen kam, dem Rat seines Stellvertreters Ames und ließ der Polizei freie Hand. Wenn es unumgänglich war, dass sich sein Büro einschaltete, übergab er den Fall dem jüngsten Mitarbeiter, einem jungen Mann, der gerade eben Examen gemacht hatte. Ames fuchste ihn dann ein: «Bleib in Deckung! Ja nicht vorpreschen! Denk dran, der Chef findet, dass das eine interne College-Angelegenheit ist, die sie selber regeln sollen. Wir wollen uns da raushalten.»
Um so überraschter war Bradford Ames, als er die Akte des Windemere-College-Falls auf seinem Schreibtisch vorfand, mit einer Notiz seines Chefs: «Brad, bitte übernimm dies persönlich.» Er ging in Rogers’ Büro, um Rücksprache zu halten. «Wieso auf einmal, Matt?»
«Weil ich sie diesmal hinter Schloss und Riegel bringen will.»
«Warum?»
Die Erklärung fiel Rogers nicht leicht. Ein Spross der Ames aus Massachusetts sieht die Dinge anders als der Sohn des Postboten Timothy Rogers. Nahm man allein mal diese College-Kinder, die andauernd Rabbatz machten: Brad ergriff nicht gerade ihre Partei, aber er regte sich auch nicht groß über sie auf; es war fast, als sympathisiere er mit ihnen. Hinzu kam, dass der Mann Junggeselle war. Wie konnte er die Gefühle eines Mannes mit vier Töchtern verstehen? Für einen Mann mit Töchtern hatte der Lauf der Dinge etwas Beängstigendes: ein Mädchen lebte ganz offen mit einem Mann zusammen, und niemand, nicht einmal die Direktion des College, fand etwas dabei.
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