Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
nahm den Bus nach Albany, einfach weil das der Erste war, der vom Busbahnhof abfuhr. Ekko setzte sich in der vierten Reihe von vorn ans Fenster, beobachtete die einsteigenden Fahrgäste und mutmaßte, wer sich wohl neben ihn setzen würde. Ein hübsches Mädchen mit langen, blonden Haaren stieg ein; er sah sie interessiert an, aber sie ging an ihm vorbei. Er drehte sich um und stellte fest, dass sie sich neben eine Frau gesetzt hatte.
    Am Ende war es ein Mann in mittleren Jahren, mit quadratischem Gesicht und dichtem schwarzem Haar. Er trug eine dickrandige Plastikbrille, über der sich die schwarzen Augenbrauen fast über der Nasenwurzel trafen. Am Aufschlag seines dunkelgrauen Anzugs steckte ein Kiwanis-Abzeichen. Der Mann lächelte und sah auf die kleine, goldene, viereckige Uhr, die für das kräftige, behaarte Handgelenk viel zu zierlich war. «Es muss jeden Moment losgehen», sagte er.
    «Ja, wird es wohl.»
    Anscheinend wollte der Mann sich unbedingt unterhalten.
    «Ich war im Café und wollte eine Tasse Kaffee und einen Donut haben, aber, meine Güte! Die langweilige Bedienung! Ich hab’s bleiben lassen, weil ich nicht noch den Bus verpassen wollte.»
    «Manchmal bummeln die ganz schön.»
    «Ich fahr gern mit dem Bus», fuhr der andere fort. «Man sieht was von der Gegend.»
    «Na, diesmal werden Sie nich viel sehn», sagte Ekko. «Mitten in der Nacht.»
    «Ja, da haben Sie Recht, aber mir gefällt’s trotzdem besser als mit dem Flugzeug. Fahren Sie bis Albany?»
    «Falls ich’s mir nicht anders überlege und vorher aussteige.»
    Der Mann hob die schwarzen Brauen. «Wieso? Wissen Sie nicht, wie weit Sie fahren wollen? Fahren Sie spazieren?»
    Ekko zuckte die Achseln. «Ich hatte einfach Lust auf eine Busfahrt. Der Bus hier fuhr zuerst ab, und da hab ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin eingestiegen.»
    Der Mann lachte in tiefem, grollendem Bass vor sich hin.
    «Was ist daran so komisch?»
    «Ihr jungen Leute … Ihr seid großartig. Sie hatten Lust auf eine Busfahrt und haben sich einfach …» Er konnte nicht aufhören zu lachen. «Sagen Sie, warum gerade ein Bus?»
    Ekko grinste. Die offene Bewunderung ließ ihn auftauen. Der Mann war ein so ausgemachter Spießer, ein typischer Pendler, der von neun bis fünf arbeitete, eine fette Frau und eine aknebehaftete Tochter hatte, bei der sie sich sorgten, sie könnte sich mit einem Jungen vergessen. Er erklärte: «Wissen Sie, es ist so: Man geht durch die Straßen –» er erinnerte sich an die Segeltuchtasche im Gepäcknetz – «sagen wir, man will Wäsche in die Wäscherei bringen, und plötzlich merkt man, dass man alles leid ist. Der ganze tägliche Mist steht einem bis hier. Verstehn Sie?»
    Der Mann nickte.
    «Also beschließt man, dass man Abwechslung braucht.»
    «Ja, das versteh ich. Und weil Sie gerade auf dem Park Square waren, sind Sie in einen Bus gestiegen.»
    «Stimmt.» Ekko nickte grinsend.
    «Und wenn Sie zufällig beim Süd-Bahnhof gewesen wären, hätten Sie einen Zug genommen. Oder in Ost-Boston ein Flugzeug?»
    Ekko maß ihn argwöhnisch, aber sein Gesicht war offen und harmlos. Er schüttelte den Kopf. «Nee, Zugfahren und Fliegen liegt mir nicht so, aber mit dem Bus fahr ich gern, besonders nachts. In einem Bus ist es nachts dunkel. Sie schalten das Licht aus, damit der Fahrer die Straßen besser sehen kann. In der Dunkelheit kann allerhand geschehen.»
    «Was zum Beispiel?»
    Ekko sah den Spießer an. «Ach, eine ganze Menge.»
    «Ja, aber was?»
    Seine Neugier war schon rührend. «Na, zum Beispiel damals, als ich mit dem Elf-Uhr-Bus von New York nach Boston gefahren bin. Ich hab wie jetzt am Fenster gesessen, und dann, ganz plötzlich, steigt dieses Mädchen ein und setzt sich neben mich. Na, ich war am Ende, hatte tagelang nich mehr geschlafen, Sie wissen ja, wie’s in so ’ner großen Stadt ist.»
    «Klar weiß ich das.»
    Ekko grinste innerlich. «Ich seh mich im Bus um, und da sind überall noch freie Plätze, also, denk ich mir, will sie Gesellschaft haben. Man konnte sofort sehen, dass sie ein schickes Mädchen war und hübsch obendrein. Sie hat so einen langen Mantel an, der bis zu den Knöcheln reicht. Als sie ihn auszieht, sehe ich, dass sie prima gebaut ist. Sobald sie sitzt, sage ich dann so was wie: ‹Das ist genau der richtige Abend dafür.› Wissen Sie, um freundlich zu sein und die Sache ins Rollen zu bringen. Aber sie antwortet nur mit ‹ Hm›, klappt so ein Gedichtbuch auf und fängt an zu lesen. Also denke

Weitere Kostenlose Bücher