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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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vorgestellt. Ich komme nicht über das Gefühl hinweg, dass sie gar nichts von der Vorlesung haben. Sie kommen herein, klappen ihre Hefte auf, und dann sehe ich nur noch gesenkte Köpfe, weil sie meine weisen Worte mitschreiben.»
    «Na, das zeigt wenigstens, dass sie interessiert sind.»
    «Es zeigt, dass sie interessiert sind, die Abschlussprüfung zu bestehen, mehr nicht. Wenn sie sich ehrlich für das Thema interessierten, würden sie nicht schreiben, sondern zuhören. Und gelegentlich würde mal ein Gesicht aufleuchten, und ich wüsste dann, dass ich sie erreiche und sie etwas lernen.»
    «Stellt denn keiner mal Fragen?»
    «Ein paar, aber das sind weniger Fragen als Herausforderungen. Sie suchen keine Belehrung, sondern Argumente – vermutlich, um die Zeit schneller rumzukriegen. Sie wissen nichts, aber sie stecken voller Meinungen. Nimm diesen Henry Luftig, den Vertreter der radikalen Linken. Er ist von Mitgefühl für die Unterdrückten erfüllt – für die Schwarzen, die Araber, alle, nur nicht die Juden. Er hat einen Spezi namens Harvey Shacter. Ein nett aussehender junger Mann, der sich für nichts zu engagieren scheint, aber Luftig immer unterstützt; wahrscheinlich mehr aus Loyalität als aus Überzeugung. Danach kommt ein Mädchen, Lillian Dushkin, die ihre Partei ergreift, vielleicht nur, weil sie Interesse für den jungen Shacter hat. Ich wäre gar nicht überrascht, wenn sie aus einer strenggläubigen Familie käme und viel mehr über das Thema weiß, als sie zu erkennen gibt. Aber sie verbirgt es, weil sie sich schämt.»
    «Sie ist nicht besonders hübsch, ja?»
    «Warum sagst du das?»
    «Weil sich ein hübsches Mädchen frei entwickeln kann; ein unschönes muss sich eine Rolle suchen, und bis sie eine gefunden hat, ist sie nie sicher.»
    Der Rabbi nickte. «Ja, besonders hübsch ist sie wohl kaum, aber das ist schwer festzustellen, weil sie sich die Augen so übertrieben schminkt; sie sieht wie ein Waschbär aus. Aber wenn sie nach einer Rolle sucht, tue ich das vermutlich auch.»
    Sie sah ihn sehr aufmerksam an. «Bisher hast du dir noch nie selber Leid getan, David.»
    Er lachte auf. «Ja, so hört sich das wohl an, und wahrscheinlich stimmt es auch. Wann immer ich an meiner Eignung zum Rabbiner einer Gemeinde zweifelte, dachte ich an das Unterrichten als mögliche Alternative. Ich habe immer geglaubt, ich würde einen guten Lehrer abgeben. Ja, und nun sieht es so aus, als wäre ich als Lehrer nicht besser als als Rabbi. Das ist schon ziemlich frustrierend.»
    «Wie kommst du darauf, dass du kein guter Lehrer bist, David? Weil so viele am Freitagmittag fortbleiben? Wäre das denn nicht für jeden anderen Lehrer jedes anderen Fachs auch so?»
    «Doch, das ist möglich.»
    «Du glaubst, es wäre dir nicht gelungen, ihr Interesse zu wecken? Gut, vielleicht bietest du ihnen nicht das, was sie erwartet haben.»
    «Sie haben erwartet, auf eine bequeme Tour drei Punkte einzuheimsen», sagte er voller Zorn. «Das haben sie erwartet. Und als sie gemerkt haben, dass sie sie nicht bekommen …» Er verstummte kopfschüttelnd.
    «Nein, David. Das ist nicht der Grund, warum Studenten einen bequemen Kurs wählen, wenigstens nicht der einzige Grund. Als ich im College war, hab ich mir manchmal leichte Vorlesungen ausgesucht; du wirst das sicher auch gemacht haben. Aber das war, weil mich das Thema interessierte, und die leichten Punkte waren der Zuckerguss auf dem Kuchen. Ich erinnere mich, dass es einen Kurs über Musikverständnis gab, den fast alle belegten. Vielleicht haben es ein paar getan, weil der Professor lieb und trottelig war und alle bestehen ließ, aber die meisten gingen hin, weil es interessant war und wir das Gefühl hatten, dass man darüber etwas wissen müsse. Gleichzeitig gab es einen Kurs über etwas, das Forschungsmethodologie hieß. Dabei schnitt nie einer schlechter als mit B ab, aber der Professor schaffte es nie, mehr als zehn Hörer anzulocken. Das lag daran, dass er langweilig war und die Vorlesung auch.»
    «Dann sind meine Studenten vielleicht einfach nicht an der Geschichte und Entwicklung der grundlegenden jüdischen Ideen interessiert», murmelte er bitter.
    «Wahrscheinlich nicht», sagte sie liebenswürdig. «Aber wie können sie sich dafür interessieren, wie sich unsere Vorstellungen von Nächstenliebe, Gerechtigkeit und so weiter entwickelt haben, wenn sie nicht wissen, was sie sind? Verstehst du nicht, David, die meisten von ihnen haben zu Hause keinen

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