Am Dienstag sah der Rabbi rot
streng. «Er sagt, er habe nicht beabsichtigt, einen Kommentar über diesen Vorfall abzugeben, sondern er habe sein Vertrauen in die Leitung der Haftanstalt ausdrücken wollen.»
«Ja, aber er hat einen Rückzieher gemacht und sich nicht an das gehalten, was er zuerst sagte. Und dazu wäre es nie gekommen, wenn die Studenten nicht demonstriert hätten.»
«Ist er dadurch überzeugt oder gezwungen worden?», forschte der Rabbi. «Wenn seine Aussage tatsächlich ein Rückzieher war, wurde er dann dadurch verursacht, dass Sie zwei Tage lang auf dem Fußboden gesessen haben oder dadurch, dass er es für klüger hielt, in der augenblicklichen Situation am College einen kleineren Aufstand im Keim zu ersticken, ehe er aus der Hand geriet. Und wo ist die Gerechtigkeit, wenn Sie jemand zwingen, Ihnen zuzustimmen?»
«Woher wissen Sie, dass er nicht überzeugt worden ist?»
Jetzt kamen die Zurufe von allen Seiten.
«Was nützt es, herumzusitzen und zu reden?»
«Was ist mit den Menschenrechten? Hat man über die nicht Jahrhunderte geredet?»
«Und mit Vietnam?»
«Jawohl, und Kambodscha?»
«Was ist denn mit den arabischen Flüchtlingen?»
Der Rabbi hämmerte auf das Pult, und das Stimmengewirr verebbte allmählich. Im darauf folgenden Augenblick der Stille hörten alle Harry Luftigs sarkastische Stimme. «Sollen wir nicht das auserwählte Volk sein?»
Die freche Bemerkung erntete lautes Gelächter, das erst verstummte, als sie alle feststellten, dass ihr Lehrer offensichtlich wütend war. Aber als er sprach, blieb seine Stimme ganz ruhig.
«Ja, das sind wir. Wie ich sehe, halten das einige von Ihnen für komisch. Ich vermute, für Ihren modernen, rationalistischen und wissenschaftlich orientierten Verstand ist der Gedanke, dass der Allmächtige mit einem Teil Seiner Schöpfung einen Pakt eingeht, wahnsinnig lustig.» Er nickte abwägend. «Gut, das kann ich verstehen. Aber wie ändert das die Lage? Ihr moderner Skeptizismus lässt sich nur auf die eine Seite des Paktes anwenden, auf die Seite Gottes. Sie können bezweifeln, dass Er einen solchen Pakt angeboten hat; Sie können sogar Seine Existenz bezweifeln. Aber Sie können nicht bezweifeln, dass die Juden daran geglaubt und danach gehandelt haben. Das ist eine Tatsache. Und wie kann man sich gegen Zweck und Ziel des Auserwähltseins stellen: heilig zu sein, ein Volk von Priestern zu sein, ein Licht unter den Völkern?»
«Aber Sie müssen zugeben, dass das ganz schön arrogant ist.»
«Die Idee, auserwählt zu sein? Warum? Sie ist nicht nur den Juden eigen. Die Griechen hatten sie, die Römer auch. In einer Zeit, die unserer näher liegt, hielten es die Engländer für ihre Pflicht, sich die Bürde des weißen Mannes aufzuladen; die Russen und die Chinesen fühlen sich beide verpflichtet, die Welt zum Marxismus zu bekehren, während unser Land meint, es müsse die Ausbreitung des Marxismus verhindern und allen Völkern die Demokratie lehren. Der Hauptunterschied besteht aber darin, dass in allen anderen Fällen die Doktrin verlangt, Menschen etwas anzutun, meistens durch Gewalt. Die jüdische Doktrin verlangt von den Juden, dass sie sich einem hohen Standard anpassen, um anderen zum Beispiel zu werden. Daran sehe ich nichts, worüber man lachen oder sich lustig machen sollte. Im Grunde verlangt sie einen hohen Standard des persönlichen Verhaltens. Er manifestiert sich in Verzichten, die wir uns auferlegen. Einige davon, zum Beispiel die Beschränkung auf koschere Speisen, erscheint Ihnen vielleicht als primitives Tabu, aber die Absicht ist die Erhaltung der Reinheit von Körper und Seele. Auf jeden Fall zwingen wir dieses Gebot nicht anderen auf. Vielleicht aber ist es naheliegender, an die Ermahnung zu denken, die Sie gelegentlich von Ihren Eltern oder wahrscheinlicher von einem Ihrer Großeltern gehört haben. ‹Das ist kein anständiges Benehmen für einen Juden.› Da sehen Sie, wie die Lehre von der Auserwähltheit sich auf das tägliche Leben auswirkt.»
Er sah sich nach allen Seiten um. «Das bringt uns nun zu Mr. Mazelmans Frage: Ist es unsere Pflicht als Juden, in allen Reformbewegungen die Führung zu ergreifen? Ich glaube, dazu haben wir eine gewisse Neigung, die historisch bedingt ist. Aber weder in unserer Religion noch in unserer Tradition gibt es etwas, das uns diese Pflicht auferlegt. Sie verlangt nicht, dass wir wie die Ritter von König Artus’ Tafelrunde unser Leben einsetzen, um Unrecht wieder gutzumachen.»
Jetzt hörten sie ihm alle
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