Am Dienstag sah der Rabbi rot
oder schon getroffen hatte.
Als Selma wiederkam, fragte Annabelle, ob sie an zwei Tischen spielen wollten.
«Falls wir überhaupt zum Spielen kommen», sagte Selma. «Wir haben geschwätzt und auf dich gewartet. Übrigens dachten wir, es könnte ganz lustig sein, wenn wir heute Abend alle zum Gottesdienst gingen. Du warst doch schon da, nicht? Wie ist es denn?»
«Zum Gottesdienst vom Freitagabend? Ja, sicher war ich da, zwei-, dreimal, mit Joe. Wie soll’s sein? Na, wie ein Freitagabend-Gottesdienst eben. Der Kantor singt, man betet, und dann hält der Rabbi eine Predigt.»
«Was, er predigt?», fragte Selma. «Bist du sicher? Jeden Freitagabend?»
«Wenigstens jedes Mal, wenn ich da war. Bestimmt macht er das jeden Freitag. Warum?»
«Ach, weil wir nicht hingehen würden, wenn der Rabbi nicht predigte.»
Flossie Bloom lachte leise. «Dann hätt’s ja keinen Sinn.»
«Wie lange dauert das? Die Predigt, meine ich?», fragte Natalie Wolf.
«Also auf die Uhr gesehen hab ich nicht.» Annabelle genoss es, im Mittelpunkt zu sein. «Ich schätze, so zwischen zwanzig Minuten und einer halben Stunde.»
«Gut, dann richten wir uns auf zehn Minuten ein.» Flossie Bloom warf den anderen glitzernde Verschwörerblicke zu. «Annabelle, was passiert danach?»
«Ich glaube, danach singt der Kantor nochmal, dann werden ein oder zwei Gebete gesprochen, und dann gehen alle nach unten in den Gemeindesaal, und es gibt Tee und Kuchen.»
«Ich meine ja, es wäre ganz am Anfang am besten», stellte Selma fest.
«Das finde ich auch», bestätigte Natalie Wolf, «dann sieht es nicht so aus, als hätte es was mit dem zu tun, was er gerade geredet hat.»
Annabelle sah unsicher von einer zur anderen; ihr so freundliches Lächeln war auf dem Gesicht festgefroren. «Habt ihr geplant, alle zusammen zu gehen? Es ist wirklich gut, und es dauert auch nicht lange. Ich meine, ihr langweilt euch bestimmt nicht.» Sie sah sie lächeln und fragte sich, ob sie etwas Dummes gesagt haben könnte. Natürlich, sie kannte sie alle, aber einige eben doch nicht so gut. Natalie, das wusste sie, war geschieden, und es ging das Gerücht, sie ließe nichts anbrennen. Aber wenn sie eine Freundin von Selma war, konnte nichts gegen sie einzuwenden sein. Genevieve Fox und Clara Nieman hatte sie auch schon oft getroffen, aber eigentlich verkehrten sie in einem ganz anderen Kreis. Genevieve fuhr einen weißen Jaguar, Clara war nicht verheiratet und wohnte in einer Atelierwohnung unten in der Stadt, direkt am Wasser.
«Ja, wir hatten uns das so ausgedacht», sagte Selma. «Wir dachten, wir wollten alle zusammen gehen. Möchtest du auch mitkommen?»
«Ach, wunderbar! Natürlich möchte ich das. Aber ich muss vorher noch Joe fragen. Vielleicht hat er vor, heute hinzugehen, und dann muss ich natürlich mit ihm gehen.»
42
Der Gottesdienst vom Freitag begann pünktlich um halb neun. Die Andächtigen trafen schon ab acht Uhr ein, blieben aber im Foyer, um sich zu begrüßen und mit Freunden zu plaudern. Erst um Viertel nach acht gingen sie nach und nach in den Synagogenraum, wo sie sich setzten und ganz automatisch ehrfurchtsvoll die Stimmen zu einem Flüstern senkten.
Meistens saß die Frau des Rabbi dann schon auf ihrem Platz in der zwölften Reihe am Mittelgang. Das war weit genug hinten, um festzustellen, ob der Rabbi laut genug sprach, und wenn nicht, ihm ein Zeichen zu geben. Alle, die ihren Blick einfingen, nickten ihr zu, und sie antwortete mit einem Lächeln und einem von den Lippen geformten «Gut Schabbes». Auf dem bima neben der Bundeslade saßen der Rabbi und der Kantor zusammen, Letzterer in der Pracht seiner schwarzen Robe, des langen, seidenen Gebetschals und der hohen, mit Fransen verzierten samtenen jarmulke . Er saß gerade und hoch aufgerichtet, neigte den Kopf gelegentlich, wenn der Rabbi ihm etwas zuflüsterte, und antwortete mit einem würdevollen Nicken.
Der kleinere Rabbi, der noch kleiner wirkte, weil er so krumm in dem thronartigen Stuhl saß, gab neben ihm eine armselige Figur ab. Trotz vieler Winke vom Ritual-Ausschuss weigerte er sich, eine schwarze Robe zu tragen, und sein Gebetschal war zwar sauber, aber aus Wolle und sah neben der glänzenden weißen Seide des Kantors gelblich aus. Auch seine jarmulke war das übliche, schwarze anliegende Käppchen, wie es die Mitglieder der Gemeinde trugen. Und da er zu Fuß zur Synagoge ging, waren die schwarzen Schuhe, die alle sehen konnten, fast immer staubig. Im Umkleideraum lag eine
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