Am Dienstag sah der Rabbi rot
Schuhbürste, aber trotz aller Beschwörungen Miriams vergaß er es regelmäßig.
Die Zahl der Tempelbesucher wechselte von Woche zu Woche, was weitgehendst vom Wetter abhing. An schönen Abenden kamen etwa hundert. Sie sammelten sich meistens auf den mittleren Plätzen, was hieß, dass sie am Mittelgang saßen, so etwa ab der dritten oder vierten Reihe. Nach ein paar Minuten geflüsterter Unterhaltungen begannen sie dann in den Gebetbüchern zu blättern, als wollten sie sich für den Gottesdienst in die richtige Stimmung versetzen. Die Nachzügler, die erst unmittelbar vor Beginn kamen, setzten sich so unauffällig wie möglich in den Hintergrund.
An diesem Abend aber, als der Rabbi gerade vortreten wollte, um anzukündigen, dass der Kantor nun den Gottesdienst durch den Gesang von ma towu , wie gut sind deine Zelte, o Jacob, einleiten würde, tauchte ein halbes Dutzend jüngerer Frauen im hinteren Teil der Synagoge auf. Sie blickten sich einen Moment um, marschierten dann entschlossen durch den Mittelgang und setzten sich in die zweite Reihe. Der Rabbi wartete, bis sie saßen, und trat dann vor, um seine Ankündigung zu machen.
Mrs. Nathanson, die wie die meisten Gemeindemitglieder über die Störung etwas ärgerlich war, flüsterte ihrem Mann zu: «Selma Rosencranz und ihre Clique. Vermutlich hatten sie nichts Besseres vor.» Ehe Mr. Nathanson antworten konnte, warf der Kantor den Kopf zurück, hielt das Gebetbuch auf Armeslänge von sich und begann zu singen.
Als Nächstes sang er lecha dodi , den Gruß an die Sabbatbraut, bei dem die Gemeinde in den Refrain einstimmte. Darauf folgte das wechselseitige Lesen eines Psalms in Englisch, das vom Rabbi geleitet wurde, und dann der Gesang des hinemi heani mi maass , das Spezialgebet und Lieblingsstück des Kantors, da seine Wiedergabe seine stimmliche Leistung voll zur Wirkung brachte. Darauf sprach die Gemeinde das schema laut und erhob sich anschließend, um stumm das amida zu beten. Während der ganzen Zeit verhielten sich die Frauen aus der zweiten Reihe absolut richtig. Sie standen auf, wenn sie aufstehen sollten, oder sprachen die Antworten, wenn es erforderlich war.
Der Rabbi wartete, bis alle das stumme Gebet beendet hatten und wieder saßen, um dann, nachdem er den Gebetschal zurechtgerückt und den Sitz des Käppchens geprüft hatte, zum Pult vor der bima zu treten und die Predigt zu halten. Die Gemeinde klappte die Gebetbücher zu, und alle setzten sich zurecht. «In dem Teil der Bibel, den wir morgen lesen werden», begann er und hielt inne.
Die Frauen aus der zweiten Reihe waren alle gleichzeitig aufgestanden, hatten sich aus der Sitzreihe gedrängt und marschierten nun, so kühn, wie sie hereingekommen waren, durch den Mittelgang und hinaus.
Einen Augenblick lang herrschte erschrockenes Schweigen, dann kam leises Stimmengewirr, während alle miteinander tuschelten.
Der Rabbi wartete, bis sich die Tür zum Synagogenraum wieder geschlossen hatte, dann flüsterte er so leise, dass nur die aus der ersten Reihe die Worte verstehen konnten: «Sie müssen es schon vorher gewusst haben.» Danach setzte er wiederum an: «In dem Teil der Bibel, den wir morgen lesen werden …»
Sie gingen stumm bis zur nächsten Straßenecke, bis sie die Synagoge nicht mehr sehen konnten, dann sagte Miriam: «Du hast das sehr gut gemacht, David. Du hast überhaupt kein bisschen ärgerlich oder aus dem Konzept gebracht ausgesehen.»
«Das war ich auch nicht. Aber das ist beunruhigend, nicht?»
«Wie meinst du das? Ich versteh dich nicht.»
«Ich weiß nicht mal, ob ich es selbst tue», sagte der Rabbi. «Ich hätte mich ärgern sollen. Bei der Gelegenheit wäre es angebracht gewesen, aber ich hab es nicht. Es war mir gleichgültig. Warum, weiß ich auch nicht.» Er verhielt plötzlich den Schritt und sah sie an, als erwarte er einen Angriff. Als sie stumm blieb, fuhr er fort: «Vielleicht liegt es daran, dass ich nie was von diesem späten Abendgottesdienst gehalten habe; er ist mir zu gekünstelt. Dieses Gesinge von lecha dodi als Begrüßung des Sabbat, nachdem der Sabbat längst begonnen hat, und dann diese Predigt, die nichts anderes ist als ein Tempowechsel nach den Gebeten, sorgfältig zusammengestellt, damit sie nicht ermüdend wirkt. Ich hab was dagegen, dass wir jede Woche über hundert Leute zusammenbekommen, wenn wir auf der anderen Seite für den normalen maari’w -Gottesdienst nur mit Mühe den minjan beten können.»
«Aber so war es doch immer
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