Am Dienstag sah der Rabbi rot
mit, und er sagt, Jesus ist der Messias, an den die Juden glauben, und dass er gekommen ist, die Menschheit zu retten.»
«Vor was zu retten?» Die Frage kam von dem jungen Mann, der immer so emsig mitschrieb. Dem Rabbi kam der Gedanke, dass er zum ersten Mal, wie alle anderen auch, mehr zugehört als mitgeschrieben hatte.
«Vor der Hölle natürlich», antwortete Mazelman verächtlich. «Stimmt das nicht, Rabbi?»
«Ja, so ist es gemeint», sagte er. «Hölle war der Versuch, die uralte Frage zu beantworten, warum die Guten leiden, während es den Bösen so oft wohl ergeht. Alle Religionen haben mit diesem Problem gerungen. Die Hindus lösen es durch die Lehre von der Reinkarnation. Man verdient sich seinen guten Nachtisch im nächsten Leben mit dem, was man in diesem Leben getan hat. Die christliche Lehre hält sich daran, dass die Bösen im ewigen Höllenfeuer braten, während die Guten mit dem ewigen Leben im Himmel belohnt werden.»
«Und wie lautet die jüdische Antwort?», fragte Lillian Dushkin. «Glauben wir nicht an Himmel und Hölle?»
«Im Grunde nicht, Miss Dushkin. Der Begriff ist von Zeit zu Zeit eingedrungen, ist aber nie aufgegriffen worden. Unsere ‹Antwort›, wie Sie es formuliert haben, wird am besten im Buch Hiob ausgedrückt, und sie ist leider nicht sehr trostreich. Wir sagen, es ist einfach der Lauf der Welt – die Sonne scheint ebenso hell auf die Bösen wie auf die Guten und Gerechten –, aber die Güte trägt ihre eigene Belohnung in sich wie das Böse seine Strafe. Wenigstens hat dies den Vorteil, realistisch zu sein und unsere Aufmerksamkeit auf diese Welt zu lenken, um sie zu verbessern zu suchen, wohingegen man sagen kann, dass sich der christliche Blick auf die nächste Welt richtet und diese hier nur als eine Art Aufenthalt betrachtet. Natürlich stammt diese Anschauung aus einer Zeit, in der die Welt voller Unruhe war, und traditionelle Ideen und Einrichtungen ebenso zusammenbrachen wie in der Gegenwart.»
«Wie in der Gegenwart?»
«Ja, Mr. Luftig. Denken Sie doch an die weltweite Revolte der jungen Leute gegen das, was sie Establishment nennen.»
«Na, vielleicht beweist das, dass Gott tot ist!», attackierte ihn Luftig. «Mir ist keine Hinwendung zur Religion oder neuen Kulten aufgefallen –»
«Nein?», unterbrach ihn der Rabbi. «Ja, wie würden Sie denn dann die plötzliche Faszination Ihrer Generation durch Astrologie und Yoga und Zen und das I-Ging und Tarot-Karten und makrobiotische Ernährung und Drogen und Kommunen – soll ich weitermachen? – erklären? Alle bieten sie Abkehr von der Wirklichkeit oder augenblickliche Erkenntnis oder unmittelbare mystische Verzückung.»
Am gebannten Schweigen erkannte er, dass er sehr gefühlsbetont gesprochen hatte. Um die entspannte Atmosphäre wiederherzustellen, fuhr er in normalem Tonfall fort: «Vom Wesen her ist das Christentum eine mystische Religion und bietet die psychologischen Erfüllungen, die aus dem Mystizismus erwachsen. Es ist überweltlich, himmelsorientiert, während unsere Religion sich dem Diesseits zuwendet. Wir kämpfen gegen das, was böse in der Welt ist, und genießen die guten Dinge geistiger oder materieller Art, die sie zu bieten hat. Wir kehren uns nicht durch Asketentum von der Welt ab oder versuchen, uns durch Mystizismus über sie zu erheben, der übrigens im Judentum nur wenige Anhänger hat.»
«Was ist mit den Chassidim?», fragte Mark Leventhal.
Der Rabbi nickte. «Ja, sie haben Tendenzen in diese Richtung, aber ich würde nicht sagen, dass die chassidische Bewegung im Kern unseren Traditionen entspricht. Es ist bezeichnend, dass Martin Buber, der größte moderne Apologet der Chassidim, christliche Theologen viel stärker beeinflusst hat als die Juden. Wir glauben nicht, dass der eine ekstatische Augenblick einer Fast-Vereinigung mit Gott für alle Zeit Tugend verleiht. Für uns muss es eine tagtägliche bewusste Ausübung von Gerechtigkeit und Tugend sein. Aber wir verlangen menschliche Tugend, nicht die übermenschliche Tugend eines Heiligen. Unsere Religion fordert uns auf, uns praktisch der Welt anzupassen, wie sie ist. Sie ist eine Religion der Arbeit und der Ruhe, des Lebens und des Todes, der Heirat, der Kinder und ihrer Ausbildung und Erziehung, der Freude am Leben und der Notwendigkeit, sein Leben zu fristen.»
«Na, ihre Religion muss aber funktionieren», sagte Shacter. «Sie sind viel besser im Geschäft als wir.»
Die Studenten lachten, und der Rabbi stimmte mit ein,
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