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Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)

Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)

Titel: Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regina Mengel
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Zettel.
    „Das ist eine Adresse“, stellte Susanna fest.
    „Ich habe dir einen Hauslehrer besorgt. Herr Moulin ist sehr nett, allerdings ist er nicht mehr der Jüngste. Gleich nach dem Frühstück wirst du dich auf den Weg machen.“
    Auch das noch! Nach den Erlebnissen des gestrigen Abends hatte Susanna beschlossen, sich im Dorf nicht so bald wieder blicken zu lassen.
    Trotz ihrer Furcht fügte sie sich. Bereits am Vortag hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Gegenwehr an Toni abprallte, wie ein Tennisball an einer Mauer.
    Gegen neun Uhr verließ sie das Haus. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Dicke Wolken überzogen den Himmel. Susanna kam nur langsam voran. Je weiter sie sich der Dorfmitte näherte, desto mehr zog sich ihr Magen zusammen. Was, wenn dort diese Verrückten auf sie warteten? Zwar hatten sie ihr nichts angetan, dennoch ließ die Erinnerung Susanna frösteln.
    Ihr blieb keine Wahl. Toni hatte unmissverständlich erklärt, sie würde bis heute Nachmittag niemanden im Haus dulden. Susanna zwang sich vorwärts, einen Fuß vor den anderen, rechts, links, rechts, links.
    Dann sah sie sich den Bewohnern von Lesancé gegenüber. Blütenblätter regneten auf sie hinab. In manchen Straßen legten sie sich wie ein Teppich auf die Pflastersteine. Von überall her riefen die Leute: „Sajadi zurafai, teqisma sadi safar en bayadi.“
    Susanna hastete vorwärts. Nur mühsam gelang es ihr, die aufkeimende Panik zurückzudrängen. Doch je weiter sie ging, desto mehr beruhigte sie sich, denn bis auf die Sache mit den Blütenblättern, erschienen die Leute ihr harmlos.
    Als sie in die Rue de la gare einbog, stand Herr Moulin bereits an der Tür seines Hauses.
    „Sajadi zurafai, teqisma sadi safar en bayadi“, empfing auch er sie mit einem Blütenregen. Sie nickte ergeben. Mit einer einladenden Geste bat er Susanna herein. Gleich darauf ließ sie sich in seinem Wohnzimmer in einen Sessel fallen.
    „Uff.“ Sie atmete auf.
    Herr Moulin betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. In seine Stirn gruben sich Falten, die sich bis zu einer Halbglatze fortsetzten. Die spärlichen Haare trug er lang. Susanna mochte ihn auf Anhieb.
    Er bat sie um ihre Schulunterlagen. Während er Blatt für Blatt durchsah, erzählte er, dass er früher Lehrer an der Dorfschule gewesen wäre. Aber eine Schule gäbe es in Lesancé schon lange nicht mehr und er befände sich im Ruhestand.
    Das Gespräch verlief angenehm. Als Herr Moulin in die Küche verschwand, um vor dem Unterricht eine Kanne Tee zuzubereiten, fühlte sich Susanna zum ersten Mal an diesem Tag wohl. Sie zog die Schuhe aus und schob ihre Beine untereinander.
    In der Küche plätscherte das Wasser und Herr Moulin klapperte mit dem Kessel. Bis er zurückkehrte, würde es einen Moment dauern. Entspannt schloss Susanna die Augen. In der Nacht hatte sie kaum geschlafen. Sie döste, aber zur Ruhe fand sie nicht. Zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum und es gab niemanden, der sie beantworten wollte.
    Oder vielleicht doch? Sofort war sie hellwach. Ihr Gehirn arbeitete mit Hochdruck, und schon bevor in der Küche der Teekessel pfiff, nahm die Idee Gestalt an.
    Herr Moulin füllte die rosengemusterten Tassen. Dampf stieg auf und Minzduft durchzog den Raum. Dann begann der Unterricht. Herr Moulin nahm keine Rücksicht auf den Lehrplan, sondern berichtete zu allererst über die Gegend rund um Lesancé.
    „Wie in so vielen Orten in dieser Gegend verließen die Jüngeren das Dorf, um in der Stadt Karriere zu machen. Sicher wäre Lesancé längst ausgestorben, wenn sich nicht die Grenzgänger hier angesiedelt hätten.“
    Susanna stutzte. Wer sind die Grenzgänger? Sie wollte gerade mit der Frage herausplatzen, als sie sich besann. Beinahe hätte sie ihre Chance verpasst.
    Stattdessen nickte sie wissend.
    „Das war sicher gut für das Dorf“, sagte sie. „Aber war es nicht schwierig, sich hier zu Hause zu fühlen?“
    Hoffentlich war die Frage nicht unpassend.
    „Einfach war es nicht. Es ist ja nicht nur das Wetter, das sich von Kis-Ba-Shahid unterscheidet“, Herr Moulin lachte. „Besonders die Technik hat die Menschen zu Anfang verwirrt.“
    „Ja, das glaube ich.“ Susanna lächelte, bemüht einen eingeweihten Eindruck zu machen. Sie hätte gern eine weitere Frage gestellt, aber ihr fiel keine ein. Zum Glück bemerkte der Lehrer ihre Unsicherheit nicht. Stattdessen fuhr er fort:
    „Als der Zweite Weltkrieg begann, gingen viele der Bewohner zurück nach Kis-Ba-Shahid. Und

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