Am dreizehnten Tag: Die Bestimmung (German Edition)

knirschte und schien nachzugeben, allerdings nur einen Millimeter. Susanna zog, das Holz ächzte. Mit den Füßen stützte sie sich am Schrank ab. Sie umfasste den Griff mit beiden Händen und zog erneut. Zentimeter für Zentimeter bewegte sich die Schublade. Als sie etwa zu zwei Dritteln hervorschaute, fuhr ein Ruck durch das Holz. Was auch immer den freien Weg des Schubkastens behindert hatte, gab nach. Die Lade schoss heraus und Susanna, plötzlich jedes Widerstands beraubt, landete auf dem Hintern.
    „Aua.“ Sie rieb sich die schmerzende Stelle. Dann betrachtete sie den auf dem Boden verstreuten Inhalt der Schublade. Direkt vor ihr lagen einige brüchige Zeichnungen. Es schien sich um die Baupläne des Hauses zu handeln. Darunter kam ein Stapel Notizbücher zum Vorschein. Sie schlug die Hefte auf und entdecke Aufzeichnungen über Ausgaben und Einnahmen.
    Blatt für Blatt, Heft für Heft untersuchte Susanna, bis nur noch einige fleckige Bücher übrig blieben. Susanna nahm eines davon in die Hand. Der zerschlissene Einband hatte schon bessere Zeiten gesehen. Wo einst der Titel und der Name des Autors gestanden haben mussten, ließen nur vereinzelte goldene Linien die Worte erahnen. Sie schlug das Buch auf.
    Dieses Buch gehört Elise stand in geschwungener Schrift auf der Innenseite, und darunter in Kinderschrift: Jetzt gehört dieses Buch Antoinette. Sie blätterte weiter: „Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm“.
    Das Nächste war ebenfalls ein Märchenbuch. Es gab noch ein Buch mit afrikanischen Märchen, eines mit chinesischen und die Erzählungen aus 1001 Nacht. Zu guter Letzt war nur noch ein einziges, schmales Büchlein übrig. Es wirkte noch älter als die anderen. Vorsichtig nahm Susanna es heraus. Zum Glück war der Einband unversehrt. „Im Lande Kis-Ba-Shahid“ stand in goldenen Buchstaben auf blauem Grund.
    Vor Schreck hätte Susanna das Buch beinahe fallen lassen. Sie überprüfte den Titel. Konnte das Zufall sein?
    Hastig räumte Susanna die Schublade ein und schob sie zurück in den Schrank. Dann verließ sie die Bibliothek. Auf dem Weg in ihr Zimmer verbarg sie das Buch unter dem T-Shirt.
    Unterwegs traf sie auf Toni.
    „Ist es in Ordnung, wenn ich das Abendessen heute ausfallen lasse?“, fragte Susanna. Toni hatte nichts dagegen und Susanna verschwand in ihr Zimmer.
    Die Helligkeit reichte gerade noch, um ohne Lampe zu lesen. Sie wickelte sich in die Bettdecke und schlug das Buch auf.
     
    Im Lande Kis-Ba-Shahid
     
    So erfahret vom Lande Kis-Ba-Shahid jenseits des Meeres zu Zeiten des Sultans Mahmud Ben Hassan. Nicht viele Menschen werden je von Kis-Ba-Shahid gehört, noch es besichtigt haben, denn Kis-Ba-Shahid ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Nur die Eingeweihten vermögen den Weg dorthin zu beschreiten.
    Stellet euch vor, die Menschen in Kis-Ba-Shahid sehen nicht aus wie wir. Ihre Haut ist von goldenem Braun und ihre Augen sind von dunklerer Farbe. Das Haar dieser Menschen wächst dicht und schwer. Die Männer mit ihren kantigen Gesichtern wirken streng und stark. Gerade so, wie es sich für einen Mann im Lande Kis-Ba-Shahid gehört. Denn ihnen obliegt die Aufgabe, die „Schönen Blumen“ des Landes zu beschützen.
    Eines Tages tritt ein Ausrufer unter die Menschen. Von überall strömen sie herbei. Als sich alle Bewohner versammelt haben, beginnt der Ausrufer zu lesen.
    „Meine Kinder, mit Freuden gebe ich bekannt, dass in wenigen Tagen der dreizehnte Geburtstag meines geliebten Sohnes bevorsteht. So lade ich euch ein, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Wie es die Tradition erfordert, dauert das Fest dreizehn Tage. Es soll am dreizehnten Tag, in der dreizehnten Minute der dreizehnten Stunde mit der Enthüllung der Bestimmung seinen Höhepunkt finden.“
    Große Freude herrscht unter den Menschen und bald schon gibt es in ganz Kis-Ba-Shahid keine einzige weiße Blüte mehr zu kaufen.
     
    Susanna sprang auf. Schon wieder Blütenblätter?
     
    Der Tag des dreizehnten Geburtstags rückt heran und das Fest beginnt. Wo der Prinz sich auch zeigt, wandelt er auf Blütenblättern und die Menschen begrüßen ihn mit den traditionellen Worten.
    Am Tag vor der Verkündung reist der Sultan zur großen Bibliothek. Dort bewahrt man das Buch der Prophezeiungen, in dem die Bestimmung eines Jeden geschrieben steht.
    Der alte Bibliothekar empfängt den Sultan und führt ihn in einen runden Raum, in dem nichts als ein Pult steht. Darauf ruht das uralte Buch, ein blutroter