Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
richtig macht, kann überhaupt nichts passieren. Nehmt immer nur so viel Farbe auf, wie ihr braucht.»
Martha klappt den Tuschkasten auf, von den zwölf Farben fehlen vier, die restlichen sind eingetrocknet oder verschmiert. Sie zieht ihren Aquarellkasten aus dem Rucksack.
«Kann ich den mitbenutzen?» Jill stellt ein Wasserglas auf den Tisch.
«Und was sollen wir malen?», fragt jemand.
«Eure Ideallandschaft», sagt Frau Ziegert.
Allgemeines Aufstöhnen.
«Können wir nicht Modezeichnungen machen?» Das ist natürlich wieder Hanna.
«Nächste Woche sind Ferien, denkt doch mal daran, wie der Ort aussieht, an dem ihr die am liebsten verbringen würdet.»
«Kann das auch eine Stadt sein?», fragt Vincent.
«Das kann auch eine Stadt sein.»
«Dann nehme ich New York. Hochhäuser sind wenigstens einfach.»
Bei dem Stichwort New York muss Martha an Miller denken. Ganz am Anfang hatte er ihnen begeistert von seiner Lieblingsstadt erzählt. «New York ist ganz anders, als ihr es euch vorstellt. Eine total grüne Stadt. Überall gibt es Parks oder Grünanlagen mit Bänken, wo man einfach sitzen und Künstlern zuschauen kann, die Musik machen oder jonglieren oder Feuer spucken.»
Komischerweise kann sich Martha Miller nicht in New York vorstellen, aber wo dann? Wo würde sie gern mit ihm sein?
In den Bergen? Nein. Am See? Bloß nicht, dann müsste sie sich ja im Badeanzug zeigen. In einem Park. Ja, das wäre es. Und schon taucht sie den Pinsel ein und zeichnet als Erstes die Konturen eines Springbrunnens, es folgen Blumenbeete, ein kleiner, von Rosen umrankter Pavillon und ein altmodischer Eiswagen mit rot-weiß gestreifter Markise. Hinter den beiden Silberglocken steht ein rundlicher Mann mit Schnurrbart.
«Hast du kein Grün?», fragt Jill.
«Das kann man mischen», sagt Martha. «Aus Blau und Gelb.»
Jill fuhrwerkt in Marthas Farben herum und klatscht sie lieblos auf ihr Blatt.
«Was soll das werden?», fragt Martha.
«Sieht man doch: Himmel, Strand, Meer und Dünen.»
Um das zu erkennen, braucht man eine Menge Phantasie. Jill kann eben auch nicht alles.
«Sehr gut, Martha, das ist ja ganz zauberhaft.» Frau Ziegert beugt sich über Marthas Blatt. «Da möchte man ja gleich spazieren gehen.»
Martha hält das Bild ein Stück von sich fort. Es ist wirklich gut geworden. Das gesamte Blatt ist mit vielen kleinen Details gefüllt. Der Eisverkäufer mit seinem Schnurrbart, der Goldfisch, der halb aus dem Becken hüpft, das junge Mädchen, das mit einer Eiswaffel auf dem Rand des Beckens sitzt und Martha ziemlich ähnlich sieht. Nur Miller fehlt.
«Was wünsche bella signorina? Stracciatella, Limone, Tartuffo?» Der Eismann hebt eine der Glocken und zeigt stolz seine Sorten.
«Die Signorina wünscht Schokolade und Pistazie», ertönt eine Stimme hinter ihr. Überrascht dreht sie sich um. «Mister Miller! Woher kennen Sie meine Lieblingssorten?»
«Ganz einfach», sagt er mit einem Lächeln. «Weil es auch meine Lieblingssorten sind.»
Der Eisverkäufer murmelt etwas von
amore
und füllt zwei Waffeln mit Schokoladen- und Pistazieneis. «Prego, Signorina.»
«Das ist ja viel zu viel», sagt Martha. «Ich bin eh schon zu dick!»
Miller macht zwei Schritte zurück und lässt seinen Blick über ihren Körper wandern, vom Kopf bis zu den Füßen.
«Du bist perfekt, einfach nur perfekt.»
Sie hebt die Eiswaffel vor ihr glühendes Gesicht und leckt an der obersten Kugel. Das Schokoladeneis ist dunkel und nicht zu süß, genau wie sie es mag.
So selbstverständlich, als wären sie seit langem ein Paar, schlendern sie hinüber zum Springbrunnen. Sie setzen sich auf den Rand, und Martha hält ihre freie Hand ins Wasser. Ein Goldfisch schwimmt herbei und knabbert an Marthas Finger. «Der schmeckt doch nicht», sagt sie lachend. Sie bricht ein Stückchen von der Waffel ab und schaut zu, wie der Fisch es verschluckt.
«Martha?»
«Ja?» Sie hebt den Kopf.
«Darf ich?» Miller taucht seinen Finger ins Wasser und fährt ihr damit zärtlich über den Mundwinkel. «Du hast da Schokolade.»
«Wie peinlich.»
«Nicht peinlich, sondern sehr, sehr süß.»
Sein Gesicht nähert sich dem ihren, sein Mund riecht nach Schokolade … seine Lippen schmecken nach Schokolade und –
Jemand stößt an Marthas Tisch, sie kann gerade noch das Tuschglas festhalten, trotzdem landen Wasserspritzer auf ihrem Blatt. Die Schnurrbartspitzen des Eisverkäufers zeigen nach unten, er sieht aus wie Dschinghis Khan.
Stühle schurren
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