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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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retten. Edelreiser können nur zwischen Dezember und Februar genommen werden, wenn die Bäume der Nordküste ruhen. Die Wintermonate bilden die kritische Schwelle zwischen dem Sommer mit der Ausbildung der Knospen des nächsten Jahres und dem Frühling, wenn sie sprießen und aufblühen. Die Knospe ist der Schlüssel zum Erfolg eines Edelreises. Ohne eine Knospe haben das Edelreis oder auch der Baum keinen Anreiz, mit dem Wachsen fortzufahren. Wieder einmal wohnte das Schicksal der goldenen Fichte in einem winzigen Energiebündel, das darauf wartete, durch ein Zusammenspiel höchst unwahrscheinlicher Umstände in Gang gesetzt zu werden, genau wie schon dreihundert Jahre zuvor.
    Ein weiterer Vorteil, der sich daraus ergab, dass der Baum auf dem Boden lag, ermöglichte es, die meistverspre chenden Edelreiser von der obersten Spitze zu nehmen, wo die Apikaldominanz – der in die Höhe gerichtete Wachstumsimpuls – am stärksten ist. Zwar war man sich innerhalb der Haida-Führung noch immer nicht einig, ob man versuchen sollte, den Baum wiederzubeleben oder einfach der Natur ihren Lauf zu lassen, aber es gab keine Zeit zu verlieren, und diejenigen, die dafür waren, Ableger zu neh men, setzten sich durch.
    Aber es hätte auch eine müßige Debatte sein können: Aus der Dokumentation der vorangegangenen Vermehrungsversuche ließ sich alles andere als eine Garantie ablesen, dass die nächsten Bemühungen erfolgreicher sein würden.
    Erin Badesso, ein Förster von MacMillan Bloedel, der seinen Sitz auf den Inseln hatte, traf Vereinbarungen mit der Forschungsstation Cowichan Lake des Forstministeriums an der Südspitze von Vancouver Island und nahm ungefähr achtzig Ableger von dem Baum, der sterbend am Ufer des Yakoun lag. Amputierte Äste werden ziemlich genauso behandelt wie abgetrennte menschliche Gliedmaßen: Nachdem man sie in angefeuchtetes Zeitungspapier eingeschlagen und in Plastikbeutel verpackt hatte, wurden die Ableger der goldenen Fichte in eisgefüllten Kühlbehältern in den Süden geflogen, wo man sie unter drei Züchtern aufteilte, die verschiedene Methoden anwenden sollten, um die Erfolgschancen zu maximieren. Der Löwenanteil der Ableger wurde Luanne Palmer von der Cochiwan-Lake-Forschungsstation anvertraut, einer Expertin in der Technik des Propfens. Palmer hatte das Empfinden, an einer einzigartigen Unternehmung teilzunehmen, als sie die Edelreiser auspackte, die trotz ihres noch halb gefrorenen Zustands das erstaunlich goldene Aussehen nicht verloren hatten. Sie hatte ein solches Propfen schon tausende Mal ausgeführt – manchmal sechshundert Mal am Tag –, aber niemals hatte so viel auf dem Spiel gestanden. Als Sziklai seine Ableger nahm, war der Eltern baum lebendig und in guter Verfassung gewesen. Wenn das Propfen jetzt erfolglos blieb, würde es keine zweite Chance geben.
    Das Pfropfen ist ein uralter und überraschend einfacher Prozess. Wie ein Gärtner es ausdrückte: »Man muss nur zwei Wunden aneinanderpressen.« Es kann jedoch nicht schaden, einen grünen Daumen und eine willige Pflanze zu haben. Rosen und Obstbäume sind die häufigsten Aspiranten, aber viele Koniferen sind ebenfalls empfänglich. Palmer wollte ein seitliches Rindenpropfen anwenden, eine Methode, bei der man ein ungefähr fünf Zentimeter langes Edelreis am Stiel eines normalen Setzlings der Sitka-Fichte befestigt. Im Fall eines seitlichen Propfens wird sowohl beim Edelreis wie bei dem Wurzelstock an der Verbindungsstelle die Rinde entfernt, und anschließend werden beide mit ganz normalem Gummiband zusammengebunden. Zum Schluss wird Wachs auf die Schnittstelle gegeben, um überschüssiges Wasser fernzuhalten. Palmer wiederholte diese Prozedur ungefähr vierzig Mal, und obendrein setzte sie weitere vierzig Ableger direkt in speziell vorbereitete Erde. Dann hielten alle, die auf die goldene Fichte gesetzt hatten, den Atem an, und die kleinen Klone wurden ins Gewächshaus gebracht, damit die Natur das Ihre tat. Unter der Voraussetzung, dass die Edelreiser das Propfen und den Pflanzprozess überstanden hatten, würde es mindestens zwei Monate bis zum Sprießen dauern, dem Zeichen dafür, dass das Edelreis lebensfähig war und wuchs. War diese Hürde genommen, würde es immer noch sechs Monate sorgfältiger Wässerung und Düngung bedürfen, bevor es als unbedenklich erachtet werden konnte, die anderen Zweige des Wurzelstocks allmählich zurückzuschneiden, um das goldene Edelreis zu ermutigen, die Führung zu übernehmen.

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