Am Ende der Wildnis
der Ornamente lässt sich mehr über Abstammung und Einkommen von Träger oder Trägerin sagen – ihre Stellung in der Gemeinde, dem Stamm, der Welt – als irgendeine moderne Bonitätsprüfung oder Sozialversicherungsnummer jemals verraten könnte.
Die Häuptlinge und ihre ebenso mächtigen Ehefrauen sind in Bärenfelle, Schals aus Bergziegenpelz und hermelinbesetzte, aus verfilzter Wolle gefertigte Umhänge mit Abalone-Knöpfen gekleidet. Einige tragen schwere, mannshohe Redestäbe. Genau wie die Armbänder der Frauen sind all diese Insignien mit Stammes- und Familienwappen verziert: Rabe, Adler, Frosch, Bär und viele andere, und alle sind mehr, als sie scheinen. Der Unterschied zwischen dem Überstreifen eines Umhangs und dem Annehmen des Mantels eines anderen Wesens ist hauchfein. Genau wie die Totempfähle vor den wichtigeren Häusern und Gebäuden eines Dorfs stellen auch die verschiedenen Hüte, Umhänge, Armbänder und Anhänger eine Art kosmisches Sozialregister dar. Durch ihre gewebten, gemalten und tief eingeritzten Hände, Pranken, Klauen, Finnen und Flossen sind vom direkten Familienmitglied bis zu den entferntesten spiri tuellen Verbündeten und Ahnentieren alle miteinander ver bunden. Und nach einem zu Ehren der Angehörigen der Adlergruppe aufgeführten Tanz füllt sich eine Halle oft mit dem schrillen, trockenen und unverwechselbaren Klang von Adlerpfeifen, so als seien die Versammelten kurzzeitig von Vögeln besessen. Stellt man sich jetzt noch vor, diese animalische Energie würde in bewaffnete und kriegsbemalte Wut umgeleitet, dann lässt sich das Grauen erahnen, welches das Blut in den Adern der Feinde gefrieren lässt.
Es ist Mittag, und die Opfergabe von Lachs und Heilbutt ist empfangen worden; Rauch und Asche hat der unstete Wind fortgetragen, der jetzt ungestüm in Richtung Süden über die Meerenge bläst. Im Anschluss an das Fest des Flei sches wird nun ein Geist-Opfer dargebracht – in einer Kiste, gefertigt aus einem einzigen Cedar-Brett, die durch Einkerben, Bedampfen und Biegen zu einem perfekten Kubus geformt wurde. Normalerweise sind diese dampfbehandelten Holzkisten aufwändig verziert, doch diese ist lediglich schwarz gestrichen. Diese Kiste ist in Trauer, sie birgt etwas, das am besten ungekennzeichnet bleibt. In ihr befindet sich eine in wochenlanger Arbeit geschnitzte Maske, deren Verkauf Tausende Dollar einbrächte. Doch dies ist keine Maske, die sich käuflich erwerben oder an eine Wand hängen ließe, und sie darf in keiner Weise wiederverwendet werden. Dies ist Skilays Geistermaske. Nur einmal darf sie im Tanz gezeigt werden, und das geschah am Abend zuvor. Ihren Träger, der mit blinden Augen aus einem bleichen Mondgesicht zu starren schien, führte ein anderer Tänzer rasselnd durch die menschengefüllte Halle. Aus verschiedenen Ecken des großen Raums pulsierten Trommelklänge durch die energiegeladene Menge und verschmolzen mit dem Stampfen der Füße zu einem ohrenbetäubenden Poltern, als würden große Steine in der Brandung rhythmisch aneinanderschlagen. Draußen wehte und regnete es heftig. Große und finstere Raben standen im kräftigen Wind und hingen bewegungslos vor dem Dachfirst, bis sie mit der unmerklichen Neigung einer blauschwarzen Flügelspitze plötzlich verschwanden, wie von einem unsichtbaren Faden fortgerissen. Drinnen stiegen die Stimmen der Sänger in haarsträubenden Frequenzen in die Luft und schwangen wieder im Oberton des Grams, der den Raum durchdrang, als mehr und mehr Tänzer in Masken, die Frosch, Adler und andere spirituelle Wesen aus der Geisterwelt darstellten, Skilay daheim willkommen hießen. Skilays Körper war tot und beerdigt, doch das hier war viel bedeutender: Jetzt ging sein Geist auf Reisen, und im Raum war beinahe jedes Auge tränenfeucht.
Am folgenden Nachmittag tanzen die Flammen um die versiegelte schwarze Kiste und die Leute singen weiter. Lange Zeit scheint die Kiste sich im Feuer fast wohlzufühlen, doch dann zeigen sich die ersten Sprünge. Als die Kiste in Flammen steht, wird ein Beutel herumgereicht, und einer nach dem anderen brechen die Anwesenden aus dem Kreis aus, um Tabak in die Flammen zu streuen und dem von ihnen geliebten und bewunderten Mann ihre persönlichen Gedanken zu offenbaren. Ein Weißkopfseeadler steigt wie auf Befehl aus einer nahen Fichte auf, und für einen Moment bilden er und der geschnitzte Adler oben am Totempfahl einen dekorativen Rahmen um das Haus des Häupt lings. Aber hier gibt es für
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