Am Ende der Wildnis
ihn nichts Neues, und nach einer Weile lehnt er sich vor, um mit wenigen Abwärtsschlägen seiner gewaltigen Flügel, deren Spannweite der Größe eines erwachsenen Mannes entspricht, einen Luftstrom zu finden, um darin davonzugleiten. Kurz darauf passiert etwas Seltsames: Von einem auf den anderen Moment werden Deckel und Seitenwände der Kiste kurz angehoben und fallen dann zur Seite. Diesen Vorgang aus struktureller oder thermodynamischer Sicht zu erklären fällt schwer, fest steht nur, es passiert ganz plötzlich, und für einen Augenblick starrt die Maske – gefangen zwar, doch von den Flammen noch unversehrt – aus der Feuerstelle. Ihr Gesicht, weiß wie das einer Geisha, leuchtet um die scharlachroten Lippen, während aus Augen, Mund und Nasenlöchern schon Flammen schlagen. Als die Hitze schließlich zu stark wird und die kunstvoll geschnitzten Wangen unterhalb der Augen entlang der Fasern aufplatzen, geschieht dies auf beiden Seiten gleichzeitig, und einige glauben, die Maske heiße Tränen weinen zu sehen. Wie mag sich der Schnitzer in diesem Moment fühlen, kurz bevor Kinn und Stirn nachgeben und seine Arbeit zu glimmender Asche zerfällt? Was geht in den Herzen und Bäuchen der Kinder Skilays und des düsteren Häuptlings vor, als sich der dunkle Schatten des Grizzlybären, der ein leeres Kanu hält, langsam über den Boden schiebt?
Am Nachmittag ist Skilays Pfahl fertig, und obwohl die Farbe noch nicht ganz trocken ist, versammeln sich die Männer, ihn zu seinem Haus zu bewegen. Er ist entsetzlich schwer, beängstigend geradezu: Der Pfahl hat einen Umfang von dreieinhalb Metern und wiegt sechseinhalb Tonnen. Schon wieder klafft die von Skilay hinterlassene Lücke. Er war immer derjenige gewesen, der das Aufstellen der Pfähle geleitet hatte. Kann der Pfahl auch ohne ihn aufgerichtet werden? Wird dieses Mal jemand dabei umkommen? Die ersten Schritte gehen ungeschickt vonstatten: Beinahe wird ein Bein gequetscht, und Entscheidungen fällt nicht ein erfahrener Anführer, sondern die Gruppe, etwa so wie ein Fischschwarm beschließt, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Von Zeit zu Zeit tritt ein neuer Anführer in den Vordergrund und verschwindet wieder, und so findet der Pfahl mit Adlern auf der einen und Raben auf der anderen Seite seinen Weg in das grabförmige Loch neben Skilays Haus. Doch der härteste Teil steht noch bevor: Indem sie sich der höllischen Anstrengung unterziehen, die gigantische Statue in die aufrechte Position zu bringen, beweisen die Beteiligten ihre Ehrerbietung – und keiner von ihnen wird so bald wieder etwas ähnlich Schwieriges zu leisten haben. Grund für das enorme Gewicht von Skilays Pfahl ist seine Ausführung als massiver Zylinder, nicht als ausgehöhlter Halbpfahl wie so viele andere. Und anders als die leichteren Pfähle ist dieser nicht nur von Kopf bis Fuß, sondern auch rundherum mit tief gekerbtem Schnitzwerk versehen. Genau wie das Gewicht und die aufwendige Verzierung eines Goldarmbands zeugen all diese Details von Skilays Geltung und dem Wohlstand seiner Familie. Die Tatsache, dass sein Pfahl von einem der besten lebenden Kunstschnitzer der Küste bearbeitet wurde, ist ein weiterer Beweis für Skilays Ansehen.
Zehn kräftige Taue so dick wie ein Handgelenk werden um das obere Drittel des Pfahls gebunden. Dabei wird da rauf geachtet, weder den filigranen Kolibri noch den schwe ren, nach unten herausstehenden Schnabel des Adlers zu beschädigen, und auch die Rückenflosse des über die Länge des Pfahls schwimmenden Orcas mit Wolfsgesicht muss mit Vorsicht behandelt werden (aus seinem Atemloch sieht ein menschliches Gesicht hervor). Am Fuß des Pfahls, sicher und geborgen unter den Flügeln des Adlers, ist der Steuermann selbst zu sehen, auf seinem Kopf ein Hut aus Fichtenwurzeln, in seinen Händen ein Kanupaddel.
Die Taue führen strahlenförmig vom horizontalen Pfahl weg wie Bänder bei einem Maibaumtanz, und kräftige Planken sind schräg ausgelegt worden, damit der Stumpf leichter an seinen Platz rutscht. Jedes Seil wird von Dutzenden Leuten festgehalten, die auf Anweisungen warten; und jetzt tritt auch ein Anführer in Erscheinung. Oben auf dem Haufen aus ausgehobenem Sand und Dreck steht Skilays Sohn, ein junger Mann, der sich nach Kräften bemüht, diese beängstigende Aufgabe zu meistern. Auf seinen Befehl schiebt sich die Masse Richtung Strand, die Taue straffen sich und der Pfahl schleift störrisch über den Boden. Ähnlich wird es zugegangen sein,
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