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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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erhielt Captain John Meares, der auch als Vater des Holzgeschäftes im Nordwesten gelten konnte, von seinen Geldgebern in London folgende Anweisungen: »Nach Rundhölzern jeder Art besteht hier ständig Nachfrage. Bringen Sie so viele mit, wie Sie vernünftig unterbringen können.« Ein Jahr später, als seine Decks mit Holz aus Vancouver Island voll beladen waren, fühlte sich Meares seinerseits veranlasst, folgende Worte zu schreiben: »Mit dem Holz aus diesem Teil Amerikas … lassen sich in der Tat sämtliche Kriegsmarinen Europas versorgen.« Gekommen waren sie wohl wegen des Seeotters, aber geblieben sind sie wegen des Holzes.
    *** Counting Coup ist eine unter den Prairie-Indianern übliche Gepflogenheit, Mut und Tapferkeit unter Beweis zu stellen, indem man dem Feind so nah kommt, dass er mit der Hand oder einem Stab berührt werden kann. Es diente auch dazu, den Feind zu demütigen: »Siehst du, ich könnte dich töten, aber du bist dieser Mühe nicht wert.«

KAPITEL SECHS
    Der Zahn der Menschheit
    Ich bin der Zahn der Menschheit,
    Beiß mich durch den weiten Wald
    Span um Span und Baum um Baum
    Bis sich die Felder endlich schimmernd öffnen
    Labe mich an seinem Mark
    Beiß mit Lust in den ächzenden Baum
    Jeden meiner Hiebe heißt das Land willkommen
    Und die Wildnis wird von Freude überströmt
    Donald A. Fraser, The Song of the Axe ,
bearbeitet von Margaret Horsfield
    J ohn Meares mag eine Vision gehabt haben, doch er war nicht der erste Europäer, der in der Neuen Welt eine Seeflotte in Gestalt von Bäumen sah. Jeder, der seit Kolumbus und Cabot die nordamerikanische Küste zu Gesicht bekam, bemerkte die Unmengen an Holz, aber die Engländer waren die Ersten, die sich an die systematische Ausbeutung machten. Genau wie die Römer, Griechen und Sumerer vor ihnen trieb die Engländer ein unstillbares Verlangen nach Holz. Entsprechend waren weite Teile der einst dicht bewaldeten Britischen Inseln schon vor Meares’ Geburt gerodet und in Weideland verwandelt worden. Als er Captain wurde, stellte das British Empire zum ersten Mal in der Weltgeschichte etwas dar, das einer Supermacht nahe kam. Zu verdanken war diese Stellung zum Großteil seiner eindrucksvollen und weithin operierenden Kriegsflotte. Schiffe aus Holz waren die Wegbereiter für den globalen Handel und die Errichtung eines transozeanischen Weltreichs, doch zum Teil diente es auch ihrem Selbstschutz (die Faustregel zur Abschätzung der benötigten Holzmenge für den Bau eines Kriegsschiffes des späten 18. Jahrhunderts lautete: ein Acre Eichenwald pro Kanone). Hohe, astfreie Kiefern für Masten und Spieren waren in Westeuropa mittlerweile rar geworden, weshalb die Schiffsbauer der Krone auf ihrer Suche Richtung Nordamerika blickten. Bis vor hundertfünfzig Jahren war ein Wald aus gerade und kräftig gewachsenen Kiefern ebenso wertvoll wie heutzutage ein Ölfeld oder eine Uranmine – eine entscheidende Energiequelle (d. h. Segelkraft), ohne die eine Nation ihre wirtschaftlichen und militärischen Ambitionen nicht vollständig verwirklichen konnte.
    Als die Kapitäne Cook und Meares den Nordpazifik erreichten, hatten Agenten der britischen Krone in den pineries (Kiefernwälder) im Osten Nordamerikas schon mehr als ein Jahrhundert zuvor mit der Abholzung begonnen. Schiffsmasten gehörten neben Dorsch, Pottasche (aus Holzkohle gewonnen) und Biberpelzen zu den wichtigsten Exporten der Neuen Welt. Schon 1605 wurden Proben der Weymouth-Kiefer aus Maine nach England geschickt, um von der Royal Navy getestet zu werden, und 1691 schließlich trat Englands Broad Arrow Policy in Kraft. Im Einklang mit der damals allgemein üblichen Unverfrorenheit wurde durch diesen unpopulären Erlass verfügt, dass alle Bäume mit einem Umfang von vierundzwanzig Zoll oder mehr, die in einem Abstand von drei Meilen oder weniger vom Wasser wuchsen, automatisch Eigentum des Königs waren. Und um jegliches Missverständnis darüber auszuschließen, wem dieses Holz gehörte, wurde der Broad Arrow, das königliche Zeichen, in die Rinde gebrannt. Die markierten Bäume galten als so wertvoll, dass Mastschiffe – speziell für den Transport langer Stämme gebaut – unter Geleitschutz segelten.
    Dreihundert Jahre später erscheinen solch eifrige Vorsichtsmaßnahmen kurios, doch sie ermöglichen eine bildhafte Vorstellung vom wahren Wert des Materials Holz, dessen Bedeutung für unsere Geschichte und Evolution kaum überschätzt werden kann. In den meisten Teilen der Erde und

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