Am Ende der Wildnis
während fast der gesamten Menschheitsgeschichte hat uns Holz als wichtigste Quelle für Brennstoff und Baumaterial mit Wärme, Licht, Obdach sowie Nahrung, Kleidung und Waffen versorgt. Nirgends sonst ist diese Abhängigkeit so anschaulich erkennbar wie in Nordamerika. Man könnte Bäume auch als die Knochen in unserem kollektiven Körper bezeichnen. Sie sind für unsere Existenz immer so essenziell gewesen, dass ein Archäologe, der die Ikonografie der Siedler im New England des 17. Jahrhunderts untersucht, zu Recht annehmen müsste, diese strenggläubigen Christen seien eigentlich Druiden gewesen oder hätten sich einfach in »Ureinwohner verwandelt«. Im Jahr 1652, nachdem über Jahrzehnte eine bunte Mischung an Währungen verwendet worden war, von Wampum über Tabak bis zu spanischem Silber, begann die Massachusetts Bay Colony, eigenes Geld zu prägen. Diese grob geschlagenen Münzen waren nicht mit Kreuzen, Königen oder gängigen Freiheitssymbolen verziert, sondern zeigten Bilder von Bäumen, besonders Kiefer, Eiche und Weide. »Wie könnte man den Reichtum unseres Landes besser darstellen?«, schrieb Joseph Jenks, der die Gussformen der Münzen herstellte. Ebenso waren die ersten »amerikanischen« Flaggen nicht die uns vertrauten Sternenbanner, sondern Banner, mit denen der Baum gewürdigt wurde. Die erste Flagge von New England hatte starke Ähnlichkeit mit der heutigen von Vermont. In einigen Fällen waren die Flaggen selbst aus Holz gefertigt. Von New York im Norden bis nach Florida und Texas im Süden gibt es in den Vereinigten Staa ten auch heute noch zahlreiche sogenannte treaty oaks , Eichen, unter denen historische Verträge zwischen frühen Siedlern und einheimischen Stämmen unterzeichnet wurden. Bäume waren die ersten Kirchen, Regierungsgebäude und Festungen des Kontinents, und ihre symbolische Bedeutung hat sich genau wie die der golden Fichte für die Haida bis ins Weltraumzeitalter gehalten: Die kanadische Flagge mit dem Ahornblatt darauf gibt es erst seit 1965.
Doch die Ehrfurcht vor Bäumen erstreckte sich nicht immer auch auf die Wälder, aus denen sie kamen. Die meisten Siedler der Neuen Welt stammten aus Regionen, in denen die Wälder schon lange zuvor Ackerbau und Grasland hatten weichen müssen, und eine endlose Waldlandschaft mit lauter fremdartigen Menschen und Tieren darin wirkte wie ein Schock. Nicht nur die Größenordnung des Kontinents, auch die Dichte und Unmenge seiner Geheimnisse war für die Siedler überwältigend. Der Wald ist eine in sich geschlossene Wildnis. Er ist ein Ort der Gefahr und der Zuflucht gleichermaßen. Robin Hood fand hier Unterschlupf, aber auch der Wolf aus dem Märchen vom Rotkäppchen (der Wolf wird in englischen Rotkäppchen-Varianten von einem Holzfäller getötet). Während die offenen Flächen von den Armeen mächtiger Imperien dominiert werden, sind im Schutz der Bäume Rebellen und Patrioten im Vorteil – zusammen mit Ausgestoßenen, Gesetzlosen und Mystikern. Die Wälder bieten Nahrung und Baumaterial, aber sie nehmen auch die Orientierung und bremsen den Fortschritt. Es ist noch nicht allzu lange her, dass nordamerikanische Hauptnahrungsmittel wie Wild, Elche, Bisons und Karibus in den Wäldern von Küste zu Küste lebten, genau wie Wölfe, Bären und Berglöwen, Kreaturen, die uns bis heute faszinieren, ängstigen und auch töten.
Vor Ankunft der Europäer nutzten die Völker der Ureinwohner Feuer als effektives, wenn auch schwer zu kontrollierendes Mittel, um jagdbare Tiere zu treiben und die Wälder als Kulturfläche und »Weideland« für Wild zu erschließen, doch diese sonnengetupften Parks waren von begrenzter Ausdehnung. Obwohl die meisten nordamerikanischen Stämme sich im Wald oder in seiner Nähe niederließen, erzählten fast alle auch Geschichten über übelriechende, fleischfressende Monster, die in den Wäldern jenseits des Dorfes lauern. Geschichten wie Hänsel und Gretel sind die Entsprechung der Alten Welt, und der Film The Blair Witch Project aus dem Jahr 1998 war auch deswegen erfolgreich, weil er sich genau dieser tief verwurzelten Ängste bedient. In seinem 1651 veröffentlichen Buch Of Plimoth Plantation beschreibt der Pilgervater William Bradford die Niederwälder von Cape Cod als »eine scheußliche und trostlose Wildnis, voll von wilden Bestien und wilden Männern«. Und er stand damit nicht allein da: Für viele der frühen Siedler war die Abholzung nicht nur eine Notwendigkeit, sondern vielmehr ein Sakrament, ein
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