Am Ende der Wildnis
Atlantischen Ozean bis zum Pazifik und vom Golf von Mexiko bis zum Golf von Alaska – mit einer unermesslichen Gesamtmenge an Holz, die in die Billionen board feet reichte. Und dennoch wurde dieses Holz mit beispielloser Geschwindigkeit zersägt, verbrannt und in vielen Fällen einfach verschwendet.
Nur wenige Generationen nachdem die Europäer begonnen hatten, diese Landschaft tatsächlich zu verändern, kam eine alternative Sichtweise auf den Wald und seine Bewohner auf: Erlösung, so behaupteten Philosophen und Schriftsteller, sei nicht in einer gezähmten und gepflanzten Landschaft zu finden, sondern in der rauen Wildnis. Doch die Befürworter dieser Ansichten kamen meist aus längst besiedelten Gebieten und hatten keine Ahnung von tiefen Wäldern und von dem Aufwand, der damit verbunden ist, die Bäume darin zu fällen. Im Jahr 1864, als man den größten Teil der Wildnis in New England bereits urbar gemacht hatte, fand Henry David Thoreau, einer der inbrünstigsten Lobredner der Natur, die ausgedehnten Wälder in Maine immer noch ein wenig »natürlicher«, als er erwartet hatte. Fern der Annehmlichkeiten im vorstädtischen Concord schrieb er erschüttert von einem großen, ungepflegten Wald im Norden, der »primitiv und düster«, »einsamer als vorstellbar« und »noch grauenvoller und wilder als erwartet« sei.
Thoreaus Beobachtungen stammen aus der Zeit, in der Nordamerikas Holzverbrauch explosionsartig anstieg. Durch Flächenrodung und zur Nutzung als Brennstoff und Baumaterial verschlang ein Kontinent, dem es kompromisslos um Expansion ging, spektakuläre Mengen. Die industrielle Revolution in Verbindung mit der sich rasch ausdehnen den Besiedlung und einer Immigrantenflut beschleunigte die Verwertung der Wälder geradezu exponentiell. Aus England war im Jahr 1814 die Kreissäge eingeführt und zum Dreh- und Angelpunkt eines jeden Sägewerks geworden. 1828 folgte die Hobelmaschine, mit deren Hilfe das Tempo bei der Fertigung von Holzdielen erhöht werden konnte. Fünf Jahre später wurde in Chicago die Balloon-Bauweise (die schnelle, billige und einfache Technik des Bauens mit 5x10-cm-Kantholz und Verkleidung) eingeführt, die auch heute noch eine der beliebtesten Konstruktionsweisen für Häuser ist. Kurz darauf folgte die Fertigbauweise, mit der in den 1850er-Jahren Unterkünfte für die Goldsucher des Goldrauschs in Kalifornien geschaffen wur den. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon Fertigungsanlagen, die unerhörte einhundert Kassettentüren an einem einzigen Tag produzieren konnten, und Mehrblattsägen, mit denen sich ein ganzer Stamm in nur einem Durchgang in einen Stapel Bretter zerlegen ließ. Um 1840 wurden östlich des Mississippi mehr als dreißigtausend Sägewerke, Schindelwerke und verwandte Holz verarbeitende Stätten betrieben (mehr als sechstausend allein in New York State). Zwischen 1850 und 1860 wurden mehr als hundertfünfzigtausend Quadratkilometer nordamerikanischen Waldes ausgelöscht. Das Jahr 1867 erlebte die Erfindung des ersten Massen-Wegwerfprodukts in Form der Papiertüte. Um 1900 rodeten die Nordamerikaner mehr als fünfzig Milliarden board feet Holz pro Jahr. Um 1930 war Kanada der weltweit führende Produzent von Zellstoff für den Zeitungsdruck (eine Branche mit mehr als einhunderttausend Angestellten).
Die europäischen Siedler Nordamerikas beherrschten ihre Umwelt wie kein anderer vor ihnen. Sie holzten den Kontinent nicht nur schneller ab als je zuvor in der Weltgeschichte geschehen, auch in Bezug auf die mannigfaltigen Verwendungen des Holzes erwiesen sie sich als meisterhaft. Die Handwerker wussten diesen Werkstoff so raffiniert und vielfältig einzusetzen, dass um 1825 selbst ein so einfacher Gegenstand wie ein Stuhl aus bis zu fünfzehn verschiede nen Holzarten der Neuen Welt bestehen konnte. Jede Holz art diente dabei einem bestimmten baulichen oder ästhetischen Zweck, und in ihrem Zusammenspiel schufen sie ein fast nahtloses und synergetisches Ganzes mit einer Vielseitigkeit, Dauerhaftigkeit und einem Stabilität/Gewicht/Kosten-Verhältnis, wie es kein anderes Baumaterial bieten konnte. Auch heute gibt es keinen anderen Werkstoff von dieser Qualität. Auf der Grundlage importierter Technik, die fast täglich in den Köpfen und im Gepäck der Einwanderer eintraf, verwandelten die Erfinder und Handwerker der Neuen Welt die gefällten Bäume in fast alles, angefangen bei Schuhen, Uhren und Kanalrohren bis zu Schluchten überspannenden Bockbrücken und schließlich
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