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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Akt heiliger Alchemie, der das Dunkle, Böse und Wertlose in etwas Helles, Virtuoses und Fruchtbares verwandelte. Und in etwas Gewinnträchtiges. Sobald diejenigen Siedler, die nicht zurück nach England geflohen waren, aus ihren (buchstäblichen) Löchern im Boden krochen und lernten, mit dem Kanu umzugehen und die Äcker mit einheimischem Korn zu bestellen (in der Regel auf Feldern der Ureinwohner), räumte der Unternehmergeist den Holy Spirit ohne langes Zögern aus dem Weg. Mit dem Export in die waldlosen Länder England und Spanien sowie nach Westindien wurden Vermögen gemacht. Um 1675 wurden in ganz New England sowie im atlantischen Teil Kanadas Hunderte von Sägewerken betrieben.
    Die Holzwirtschaft hat – obgleich sie weit weniger wahrgenommen wird – diesen Kontinent, eigentlich alle Kontinente, noch stärker verändert als die Landwirtschaft. Und dies nicht erst seit 1867 oder 1620 oder 1066, sondern über Jahrtausende. Bäume zu fällen ist die Voraussetzung für ein Leben, wie wir es kennen: Vor allem anderen müssen die Bäume weg. So gesehen ist der Holzfäller die Vorhut der westlichen Zivilisation (allerdings auch aller anderen Zivilisationen). Nicht nur hat er dem angeblichen Chaos der Natur eine saubere, »rationale« Ordnung auferlegt, er hat uns auch den Raum und das Material verschafft, mit dem wir unsere Gesellschaft ernähren und aufbauen und ihre Botschaft bis in die entlegensten Winkel der Erde verbreiten konnten. Wobei es oft das Streben nach noch mehr Holz war, das uns dorthin gebracht hat.
    Würde man die gesamte Geschichte der westlichen Holzfällerei in einem Film von dreißig Sekunden unterbringen, könnte man ihre Auswirkungen auf die nördliche Halbkugel mit den Auswirkungen vergleichen, die der Ausbruch des Mount St. Helen auf den ihn umgebenden Wald hatte: Beide Vorgänge zeigen unaufhaltsame Energiewellen, deren Ursprung in einem relativ kleinen, bestimmten Bereich liegt und die sich rapide ausbreiten, wobei sie alles dem Erdboden gleichmachen, was ihnen im Weg ist. Der früheste bekannte Hinweis auf westliche Holzfällerei datiert aus dem Jahr 3000 vor Christus und stammt aus dem mesopotamischen Stadtkönigreich Uruk im heutigen Irak. Dort, in der sogenannten Wiege der Menschheit, wurde die Holzgewinnung auf eine Art betrieben, wie wir sie heute wiedererkennen (d. h. Fällen und Handeln von Holz mit kommerziellen Absichten und zwecks Aufbau von Nationalstaaten). Sie diente dem Bau von Städten und Kriegsflotten, verbreitete sich stetig in Richtung Westen, schneller und schneller, über Kleinasien und Europa, bis sie Amerika erreichte, wo das Tempo pfeilschnell wurde. Zurück blieben Landschaften, die wir für selbstverständlich halten, obwohl sie mit ihrem Zustand vor Einführung der Landwirtschaft kaum noch Ähnlichkeiten aufweisen. Auf der libanesischen Flagge ist eine Zeder abgebildet, weil große Teile dessen, was heute Wüste ist, ehemals dicht bewaldet waren, bis die Vorboten der Zivilisation – d. h. Holzfäller, Bauern und Ziegen – dafür sorgten, dass nie wieder ausgedehnte Zedernbestände das Heilige Land schmücken werden. Die kahlen und dürren Kalksteinhügel, die wir für typische griechische und italienische Landschaften halten, waren einst fast vollkommen unter einer Schicht längst abgetragener Muttererde verborgen, die durch Wälder aus Zedern und Eichen gehalten wurde. Und die idyllischen Weidelandschaften des ländlichen Europas waren seinerzeit ein Schattenland mit Säulen und Blätterkuppeln, in dem Bären, Wölfe und Stam mesleute lebten, die den Wald zu einem gefürchteten Ort machten. Jene von Hexen und Feen bevölkerten Wälder, die Shakespeare und die Gebrüder Grimm so lebendig heraufbeschworen haben, gab es wirklich, aber mit Ausnahme einiger fast vergessener Restbestände und einer Handvoll Parks sind sie seit Jahrhunderten »persönlich« von niemandem mehr gesehen worden.
    Wären sie vor zweihundert Jahren noch verfügbar gewesen, dann hätten Luftaufnahmen von Nordamerika eine seltsam vertraute Landschaft enthüllt. Anstelle des Schachbrettmusters aus braunen, grauen und grünen Feldern, deren Gleichförmigkeit nur durch eine Falte von Gebirgsausläufern und Höhenzügen hier und da unterbrochen wird, hätte Nordamerika uns an das mittelalterliche Europa oder vielleicht den Amazonas erinnert. Mit Ausnahme der Prärien und der Wüstenlandschaft im Südwesten wäre der Kontinent wie ein lückenloser Teppich aus Bäumen erschienen – vom

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