Am Ende der Wildnis
widerspenstige Menschen, die dazu neigten, Land weniger als einen »Ort«, sondern eher als eine billige Ware zu sehen. Als wäre er frei verfügbar und unendlich, holzten sie den Wald ab, wie sie die Luft einatmeten.
Dies alles ist leicht gesagt von jemandem, der sich in der vorteilhaften Lage befindet, im Nordamerika des 21. Jahrhunderts zu leben, in dem die Erfahrung, ein Stück Wildnis quasi in Handarbeit zu entwalden, praktisch unbekannt ist: Auch nur einen halben Hektar dichten Waldes von Ästen, Stämmen und Wurzeln zu befreien geht wahrlich auf die Knochen – und bricht einem manchmal auch das Herz. Die Schätzungen variieren sehr stark, aber grob gesagt würden zwei Männer ein Jahr brauchen, um knappe fünf Hektar des östlichen Waldes »bereit für den Pflug« zu machen. Die meisten Bäume wurden mit einer Axt gefällt. Dieses primitive, aber effektive Werkzeug stammt noch aus dem Steinzeitalter, wird aber immer noch weltweit verwendet. Um 1850 war es so häufig zu finden wie heute das Telefon: Jeder hatte eines und wusste damit umzugehen. Äxte gehören neben der Kettensäge immer noch zur Standardausrüstung der professionellen Waldarbeiter und wurden auch an der West Coast noch bis in die 1950er-Jahre beim Holzfällen eingesetzt. Doch das »Zeitalter der Axt«, wie ein Historiker es bezeichnet, erreichte seinen Zenit im ausgehenden 19. Jahrhundert, wobei dieses Werkzeug in seiner nordamerikanischen Version die höchste Evolutionsstufe erreicht hatte. Bei einer Vorführung hackte sich ein Mann namens Peter McLaren in nur siebenundvierzig Sekunden durch einen Eukalyptusbaum mit einem Durchmesser von dreiunddreißig Zentimetern. Dutzende miteinander konkurrierende Hersteller haben mit Hunderten verschiedener Designs dieses einfache Gerät von einem bescheidenen Werkzeug in den Status eines potenten – sogar sexualisierten – Vermittlers einer klaren Bestimmung erhoben. Die Modellnamen waren oft das einzige Unterscheidungsmerkmal der Äxte, und viele klangen, als seien sie von denselben Werbeagenturen ersonnen worden, die heute Motorräder und Schusswaffen bewerben: Climax, Demon, Endurance, Cock of the Woods, Red Warrior, Hiawatha, Hottentot, Black Prince, Black Chief, Battle Axe, Invincible, XXX Chopper, Woodslasher, Razor Blade, Stiletto, Forest King und Young American, um nur einige zu nennen. Ein in Vancouver angebotenes Modell trug den Namen Gorilla.
Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Grenzen zwischen den britischen und amerikanischen Territorien (und Wäldern) an der Nordostküste peinlich genau abgesteckt, aber im Pazifischen Nordwesten blieben sie noch sehr viel unbestimmter. Nachdem die Spanier Ende des 18. Jahrhunderts ihre Gebietsansprüche aufgegeben hatten, war es an Groß britannien und den Vereinigten Staaten, dieses riesige Stück kontinentalen Kuchens unter sich aufzuteilen. Da man sich nicht auf eine Grenze zwischen dem westlichen Teil von Britisch Kanada und den schnell expandierenden Vereinigten Staaten einigen konnte, vereinbarten die beiden Rivalen eine Art gemeinsames Sorgerecht für dieses Territorium. Von 1818 bis 1845 war das Oregon Territory, ein gewaltiges Gebiet, das von der heutigen Südgrenze Oregons ganz bis zum Südosten Alaskas reichte, erklärtermaßen »gemeinsam besetztes Gebiet«. Daher galten die Queen Charlotte Islands fast dreißig Jahre lang als Teil Oregons, obwohl sie mehr als fünfzehnhundert Kilometer vom Columbia River und eine ganztägige Schiffsreise vom nächstgelegenen Festland entfernt waren. Währenddessen betrieb die in britischem Besitz befindliche Hudson’s Bay Company eine der ersten Sägemühlen der West Coast am Columbia River, fünfhundert Kilometer südlich der heutigen Grenze zwischen den USA und Kanada. Irgendwann wurde die Situation untragbar, sodass 1846 auf Druck des Präsidenten James Polk mit seinem säbelrasselnden Wahlkampfslogan »Fifty-four forty or fight!« **** im Treaty of Oregon die gegenwärtige Grenze festgelegt wurde.
Acht Jahre später wurde die Kolonie British Columbia gegründet, doch im Jahr 1858 erlebte die Provinz die Invasion Tausender amerikanischer Goldgräber, die einmal mehr die britische Souveränität gefährdeten.
Zu diesem Zeitpunkt war der Otterhandel an der West Coast schon beendet. Die Nor’westmen weilten nicht mehr in diesen wertlosen Gewässern, sondern wendeten ihre Kräfte eilig Seehunden und inländischen Pelztierarten zu. Zur selben Zeit wurden die Masten und Spieren, die bei Aufenthalten an
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