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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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fatale Fehler
    Es war inmitten unsres wegs im leben.
    Ich wandelte dahin durch finstre bäume
    Da ich die rechte strasse aufgegeben.
    Dante, Die Göttliche Komödie ,
Anfangszeilen (Übersetzung Stefan George)
    M acMillan Bloedels Einfluss auf die globale Holzindustrie stand zur selben Zeit im Zenit, als Grant Hadwin allmählich ernsthafte Bedenken kamen – nicht nur, was die Holzfällerei betraf, sondern auch in Bezug auf die Rolle, die er dabei spielen wollte.
    Die 1970er-Jahre waren über Erwarten ertragreiche für die Industrie gewesen, und Hadwin war auf der Welle des Erfolgs mitgeritten. Der Abschluss als Forsttechniker, den er nach zweijährigem Studium 1973 erworben hatte, machte sich bezahlt. In vielerlei Hinsicht glich Hadwins Auftrag dem von Mackenzie, Lewis und Clark: Gehen Sie hinaus in die Wildnis, finden Sie heraus, was von Wert sein könnte, und kehren Sie mit einem Plan zurück, wie man es da raus holen könnte. Außer einem umfassenden Wissen über Wälder und deren relativen kommerziellen Wert erfordert der Job sehr viel Gefühl für die Beschaffenheit des Geländes. Angesichts einer schier undurchdringlichen Wildnis muss man in der Lage sein, sich einen brauchbaren Weg vorzustellen und ihn in die Realität umzusetzen, sozusagen einen sogar für Rollstuhlfahrer geeigneten Zugang für schweres Gerät zu schaffen. In Hadwins Fall gab es jedoch einen Haken: Wenn er seine Aufgabe korrekt ausführte, würde die Folge sein, dass dieselbe Wildnis, die er mit so großer Freude zu erforschen liebte, schon bald für geländegängige Langholztransporter zugänglich sein würde, die Lasten bis zu hundert Tonnen transportieren konnten (doppelt so viel, wie auf den Highways gestattet war), sowie für Männer, die den Befehl hatten, die ausgewählten Bestände so schnell wie möglich zu schlagen. Hadwin verstand sich auf dergleichen nicht nur gut, er hatte zuweilen geniale Einfälle.
    Die Straßenführung in der Wildnis ist während der vergangenen dreißig Jahre zu einem immer komplizierteren Unterfangen geworden. Erstens einmal muss man als Planer »denken« wie ein gigantisches Exemplar von Arbeitsfahrzeug, das sanfte Steigungen braucht, feste Randstreifen und ein Minimum an Haarnadelkurven. Aber gewichtiger ist die Tatsache, dass 1980 der größte Teil des leicht zugänglichen Baumholzes an der Küste verschwunden war; als Letzte übrig waren nur noch die Waldstücke, die sich am schwersten und nur mit höchstem Kostenaufwand erreichen ließen – Orte wie Seton Ridge. »Er besaß einen sechsten Sinn, was Straßenbauentwürfe betraf«, erinnerte sich ein Kollege namens Dewey Jones. »Er plante eine Straße, die auf diesem Steilhang südlich von Lillooet hinaufführen sollte – eine echte Herausforderung. Wenn man sich die Seite des Bergs ansah, dachte man sofort: ›Da eine Straße zu bauen ist ein Ding der Unmöglichkeit.‹ Aber er hat es getan. Es war ein technisches Wunder.«
    Das ist die Seton Ridge Road, eine Schlange aus Schotter und Sand, die sich so dicht an den Höhenlinien des schroff steilen Terrains entlangwindet, dass sie von unten so gut wie gar nicht zu erkennen ist. Eine Menge Holz ist auf ihr transportiert worden, und noch mehr als zwanzig Jahre später sind die Narben aus meilenweiter Entfernung zu erkennen. Selbst unter den günstigsten Umständen braucht die Natur lange Zeit, um sich von einem Kahlschlag zu er holen. In der Holzindustrie als »Ernten« bezeichnet, bieten diese Abholzungen einen bestürzenden Anblick: traumatisierte Landschaften aus aufgewühlter Erde und geplatzten Stämmen. Die Verwüstung ist oft so furchtbar und vollständig, dass ein Mensch, der nicht wusste, dass Holzfäller am Werk gewesen waren, sich fragen könnte, welch grausiges Unglück hier geschehen sein mochte: ein Erdbeben? Ein Tornado? Nach ein paar Jahren bleichen die Baumstümpfe langsam aus und erinnern an Grabsteine auf einem riesigen vernachlässigten Friedhof. Schauplätze dieser Art finden sich überall im Pacific Northwest, wenn auch in diesen Tagen viele von ihnen durch dünnen Sichtschutz – »Schön heitsstreifen« aus erhaltenem Wald – geschickt vor den Blicken der Öffentlichkeit abgeschirmt werden.
    Als die Hadwin-Familie in den späten Fünfzigern erst mals in Gold Bridge erschien, waren die umliegenden Täler dicht bewachsen von unangetastetem Urwald in Hanglage. Heutzutage erstrecken sich hier – wie in großen Teilen von British Columbia – enorme Kahlschläge in jede Richtung und

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