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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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regelrecht umwerfen; er muss das Sammeln weitgehend Ali und Charles Allen überlassen – und sich seinen vom Fieberwahn begleiteten Überlegungen. Darüber erfahren wir von Wallace nichts; nicht jedenfalls bis wenige Jahre vor seinem Lebensende – und erst als nach Darwins Tod dessen Autobiographie erscheint mit der dramatischen Darstellung der Ereignisse um die Veröffentlichung des Ternate-Aufsatzes. In Wallace’ Reisetagebuch ist nur lapidar vermerkt: »Am 1. März kehrte ich nach Ternate zurück, um die Rückkehr eines Schoners von Herrn Duivenboden aus Makassar zu erwarten, mit dem ich beschlossen hatte nach Neuguinea zu reisen.« Der große Moment unserer Geschichte ist Wallace nicht einmal eine Randnotiz wert. Zumindest damals.
    Fieber-Folklore. Oder: Fünf Gulden für die Hütte in Dodinga: Lewis McKinney hat Wallace’ Aufenthalt auf Ternate und Gilolo mit detektivischer Präzision aus den wenigen verfügbaren Aufzeichnungen rekonstruiert. Einmal mehr erweist sich dabei Wallace’ bisher unveröffentlichtes »Species Notebook« als wahre Fundgrube und als authentische und offenbar belastbarere Quelle als sein späterer, davon abweichender Reisebericht und auch seine Erinnerungen am Lebensende. Anders als der Zusatz in seinem Ternate-Aufsatz suggeriert, war Wallace im Februar aller Wahrscheinlichkeit nicht dort, sondern von Ende Januar (vermutlich etwa seit dem 20. Januar) bis zum 1. März auf Gilolo, wo er vom Fieber ans Bett gefesselt in einer Hütte in Dodinga seine geniale Eingebung hatte. Mehr noch: Lewis McKinney vermutet, dass Wallace selbst – mit einer durchaus bewussten und beabsichtigten Täuschung – zur Legendenbildung um seinen vermeintlichen Ternate-Aufsatz beigetragen hat; ja, diese vermeintliche Fieber-Folklore von Ternate eigentlich erst begründet hat. Doch warum?
    Zum einen: Ebenso wie heute kaum jemand weiß, wo Halmahera liegt, kennt zu Wallace’ Zeiten kaum jemand Gilolo oder gar Dodinga. Ternate ist dagegen durchaus bekannt. Aber spielt es eine Rolle? Ja, meint McKinney, denn es deckt eine Seite von Wallace’ Charakter auf. Er ist ein junger und talentierter, dabei ein ehrgeiziger und inzwischen durchaus selbstbewusster Naturforscher. Er will sich einen Namen machen. Und er hat ohne Zweifel einen Hang zur Romantik, ein entschiedenes Faible für eine facettenreiche Geschichte, die er vielleicht etwas farbenfroher ausschmückt, als sie ist. Lewis McKinney geht noch weiter; er sieht hier gleichsam die Jekyll-Seite in Wallace’ Persönlichkeit. Der sei einer, der anfangs naiv und entgegen der Meinung des Establishments etwa Robert Chambers’ heretische These der Transmutation in den »Vestiges« vertritt; der an die Evolution glaubt, bevor er auch nur die ersten Fakten sieht; der sich später für unorthodoxe Theorien wie den Spiritualismus interessiert und der damals nicht allseits populären politischen Ideen wie dem Sozialismus anhängt. Und der jetzt eben auch bei der Geschichte einer spektakulären Entdeckung etwas dazutut.
    Wallace hat mit dem Sarawak-Aufsatz erstmals einige Größen der viktorianischen Naturkunde auf sich aufmerksam gemacht; sie schreiben ihm Briefe oder in Briefen über ihn. Jetzt hat er die geniale Idee, hat das Rätsel gelöst und ist sich dessen bewusst. Doch wer kennt Gilolo, irgendwo am Ende des Archipels, am Ende der Welt, buchstäblich »terra incognita«? Brauchen großartige Entdeckungen nicht auch einen großartigen Topos, wenigsten einen großen Namen? Es ist ein Leichtes, stattdessen den Zusatz »Ternate, Februar 1858« dem Manuskript beizufügen. Nur ein schmaler Meeresarm trennt ihn ohnehin von dieser Gewürzinsel. Ternate ist in jedem Fall bekannter, exotisch und historisch zugleich. Die Welt hat von Ternate schon gehört; jetzt wird Wallace die Insel zu einem Punkt auch auf der Karte der Biologiegeschichte machen. Gilolo – oder Halmahera – ist bis heute nicht zum Mekka geworden.
    Zum anderen wissen wir von alldem, was im Februar 1858 in den Molukken geschieht, nur durch Wallace’ spätere Berichte, genau genommen: seine sehr viel späteren Berichte. Just dieser Umstand wirft zugleich ein Licht darauf, wie Legenden entstehen. Denn wo authentische Berichte fehlen, blühen schnell Spekulation und Folklore. Um nicht missverstanden zu werden: Wallace entdeckt in dieser Zeit und an diesem Ort das grundlegende Prinzip der Selektion, er verfasst einen erhellenden Aufsatz darüber, den er an Charles Darwin schickt. An diesen Fakten besteht kein

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