Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Nase her. Einmal erwacht er nachts mit einer blutenden, indes schmerzlosen Wunde an der Nasenspitze. Die größte Gefahr ist das in dieser Gegend allerdings nicht. »Jaguare kommen hier häufig vor und tödliche Schlangen gibt es massenhaft; bei jedem Schritt erwartete ich beinahe einen kalten, schlängenden Körper unter meinen Füßen zu spüren, oder einen giftigen Biss in meinem Bein.«
Eines Abends, als Wallace den Urwald in der Umgebung des Dörfchens Javíta etwas abseits des Rio Negro erkundet, trifft er auf einen solchen Panthera onca – einen Jaguar oder besser: die als Panther bezeichnete dunkle Form. »Er kam aus dem Wald, keine zwanzig Meter vor mir; und ich war so überrascht, dass ich zuerst gar nicht merkte, was es war. Als das Tier sich langsam weiter bewegte und ich den ganzen Körper und langen, gebogenen Schwanz im Blickfeld hatte, sah ich diese wundervolle schwarze Variante des Jaguars. Unwillkürlich hob ich den Lauf des Gewehres und wollte schon anlegen, als mir gerade noch einfiel, dass beide Patronen im Lauf mit feinem Schrot geladen waren. Die Ladung hätte ihn eher verärgert als getötet. Ich stand also still und starrte ihn an. In der Mitte des Pfades angekommen, drehte der Jaguar seinen Kopf, hielt einen Moment inne und sah zu mir herüber. Offenbar, so vermute ich, hatte er anderes, Wichtigeres vor, zog weiter und verschwand im Dickicht des Waldes«, berichtet Wallace später. »Diese Begegnung bereitete mir großes Vergnügen. Ich war zu überrascht und zu sehr von Bewunderung erfüllt, um mich zu fürchten. Geraume Zeit hatte in voller Lebensgröße und in ihrem natürlichen Milieu die seltenste Varietät der stärksten, gewaltigsten und gefährlichsten Tierart vor mir gestanden, die den amerikanischen Kontinent bewohnt.«
Wallace bleibt anderthalb Monate in Javíta, oberhalb des Rio Negro; er lebt, als einziger Weißer weit und breit, bei und mit den Einheimischen. Es ist Anfang 1851 und Regenzeit; das Sammeln ist daher mühsam. Ein paar Fische fängt er, doch kaum Insekten; auch Vögel machen sich rar. Wallace sitzt fest, langweilt sich – und beginnt zu dichten. »There is an Indian village; all around – the dark eternal, boundless forest spreads – its varied foliage – here I dwell awhile, the one white man – among perhaps two hundred souls.« Über vier ganze Seiten wird er dieses Gedicht später in seinem Reisebericht ausbreiten. Kein Zweifel: Die Beobachtungen an den Einheimischen, die er darin beschreibt, sind ihm wichtig; er notiert viele Einzelheiten ihres täglichen Lebens. Doch wichtig wird ihm auch die Begegnung mit dem Jaguar. Die schwarze Varietät, die er im Wald gesehen hat, ist eine melanistische Abwandlung dieser normalerweise fleckigen Raubkatze. Sie führt ihm anschaulich vor Augen, wie weit einzelne Tiere innerhalb ein und derselben Art von der normalen Form abweichen können. Solche Varietäten sollen später von großer Bedeutung für seine Überlegungen werden.
Wegen solcher Farbvarianten ist Wallace immer weiter den Oberläufen des Amazonas gefolgt und jetzt hierher ins mückenverseuchte Grenzland im südlichen Venezuela gekommen. Seit Langem ist er auf der Suche nach einer weißen Variante des schwarzen Schirmvogels vom Amazonas. Der lebt sowohl entlang der Wälder dieses riesigen Stromes als auch in den bewaldeten Vorgebirgen am Fuße der östlichen Anden, durch die sich die Zuflüsse des Amazonas ziehen. Für einen Schirmvogel mit weißem statt schwarzem Gefieder würde der Preis exorbitant sein, den Privatsammler in England bereit wären zu zahlen; und mithin jede Mühe wert. Wallace rätselt seit Langem, ob dieser sagenhafte Schirmvogel – von dem er nur gerüchteweise gehört hat, den er bisher aber nirgends zu Gesicht bekam – eine noch unbekannte Art ist oder nur ein abweichendes Einzelexemplar; eine Anomalie und Laune der Natur, wie der Panther, den ab und an zwei normal gefleckte Jaguare in die Welt setzen.
Weit hinauf bis nahe an eine der Quellen des Amazonas gelangt, kehrt Alfred Russel Wallace schließlich um. Er hat Schmetterlinge und andere Insekten gesammelt, Vögel und Affen aus den Wipfeln der Bäume geschossen, Palmen gezeichnet, die Sprache der Einheimischen notiert, ihre Artefakte erworben und über die Artenfrage gegrübelt. Jetzt ist er müde, ausgelaugt von den ewigen Strapazen einer Reise in den Tropen, und auch nicht ganz gesund; Malaria, Gelbfieber und Ruhr sind ständige Begleiter und zehren an seinen Kräften. Er
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