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Am Ende eines Sommers - Roman

Am Ende eines Sommers - Roman

Titel: Am Ende eines Sommers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Ashdown
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einen gewaltigen Sechs-Meilen-Spaziergang über Tennyson Down. Es ist kalt und klar, und man kann die ganze Insel und das Meer auf beiden Seiten sehen. Es geht auf die Teezeit zu, und der Himmel wird hier und da rosa. Als wir am höchsten Punkt ankommen, steht da ein großes Steinkreuz zum Gedenken an den Dichter Tennyson. Ich habe schon von ihm gehört, aber ich könnte nicht sagen, was er geschrieben hat. Wir setzen uns auf die Holzbänke, die um das Denkmal herum stehen, atmen durch und essen Roastbeef-Sandwiches. Tante Rachel hat außerdem Orangensaft und ein paar Hackfleischpasteten eingepackt, und das alles schmeckt noch einmal nach Weihnachten, nur diesmal eben hier oben auf dem Gipfel der Welt.
    Mum und Andy sind ein Stück zurückgeblieben, und sie kommen ein paar Minuten später dazu. Während der letzten paar Schritte schaut Mum mich an und George. Sie schlägt die Hand vor den Mund und schnappt nach Luft.
    »Sieh sie dir an, Rachel!«, ruft sie und zeigt auf uns. »Das ist unheimlich. Hast du sie dir mal genau angeschaut?«
    Ich starre Mum an, und George dreht sich stirnrunzelnd zu mir um und wartet auf eine Erklärung.
    Rachel mustert uns und zuckt die Achseln. »Na ja, sie sind schließlich Vettern, Mary. Das ist nicht verwunderlich. Weißt du noch, wie alle das Gleiche über dich und deine Cousine Anne sagten?«
    »Ich weiß, ich weiß. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie am selben Tag geboren sind.«
    Mum steht breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickt zwischen uns beiden hin und her. Sie lächelt und schüttelt den Kopf. George reibt sich die Augenbrauennarbe und schaut auf seine Füße. Ich sehe, dass er spöttisch grinst und sich bemüht, es nicht zu zeigen. Ich mache ein wütendes Gesicht, aber sie scheint es nicht zu merken.
    Plötzlich fällt Mum die Aussicht auf. »O mein Gott, Rachel! Was für eine Gegend! Was für ein Blick!« Sie strahlt und sieht fast verrückt vor Glück aus. »Wie erträgst du es nur, mitten in so viel Schönheit zu leben?« Sie breitet die Arme aus und legt den Kopf in den Nacken, und sie atmet die kalte Luft tief ein und dann in dicken weißen Wolken wieder aus. Ihre Augen funkeln wild, als hätte sie soeben den Sinn des Lebens entdeckt.
    Rachel lacht und schließt Mum in die Arme, wie eine Mutter es mit ihrer Tochter tut. Mum nimmt ihre Hand und fängt an zu laufen, und sie läuft und läuft und läuft den Berg hinunter, den wir eben heraufgeklettert sind, und zieht Tante Rachel hinter sich her. Sie schreit und lacht, und ihr Schal flattert im Wind. In der Senke unter uns bleiben die beiden stehen, und ich sehe eine dunkle Wolke über dem Meer heraufziehen. Sie schwebt auf und ab, sie lässt das Meer hinter sich, und als sie näher kommt, erkennen wir, dass sie aus Hunderten, ja, Tausenden kleiner Vögel besteht. Mum und Rachel sehen sie auch, und sie deuten auf das Schauspiel hoch über ihnen in der Luft. Mum sieht winzig aus in der weiten Talmulde. Der Schwarm überschlägt sich und kreist, steigt steil empor und stößt herab, schwarz wie die Nacht vor dem immer dunkleren Rosa des gigantischen Himmels. Er scheint zu pulsieren wie ein Herz.
    »Stare«, sagt George. Wir sitzen auf der Bank und schauen in den Himmel. Er hat den Deckel von einer Hackfleischpastete abgepult und löffelt die Füllung mit dem Finger heraus.
    Unter uns in der weiten Ebene von Tennyson Down ist Mum auf die Knie gesunken und hat die Hände vor dem Gesicht. Sie küsst den Boden, und Tante Rachel greift unsicher nach ihr.
    »Ehe du dich versiehst, kommen die Sperber.« George schaut immer noch zum Himmel. »Picken sie runter, einen nach dem andern. So eine Starenwolke ist wie ein fliegendes Bankett für einen Sperber. Oder einen Wanderfalken.«
    »Hast du ’ne Kippe?«, frage ich, und wir verschwinden hinter dem Kreuz, wo Mum nicht zu sehen ist. »Wusste nicht, dass du rauchst«, sagt er und gibt uns Feuer. »O doch«, lüge ich und paffe im kalten Schatten des Tennyson-Denkmals vor mich hin. Ich deute mit dem Kopf zu unseren Mums hinunter. »Ihr gefällt’s zwar nicht besonders, aber wenn es okay für sie ist, ist es auch okay für mich. Verstehst du, was ich meine?«
    »Nur zu wahr, J. Nur zu wahr.« Er wedelt mit seiner Kippe durch die Luft. »Solidarität, Genosse.«
    Katy und Andy sind schon weitergelaufen und werfen Stöckchen für Ellie. Es wird jetzt schnell dunkel; das Rot am Himmel ist anders und niedriger als eben noch. Ich zerreibe den stinkenden, halb

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