Am Ende ist da nur Freude
dass Mam hier war«, erinnerte ich ihn.
»Ach, da hab ich wohl Halluzinationen von den Medikamenten. «
»Das einzige Medikament, das Sie bekommen, ist gegen Ihre Übelkeit«, erklärte ihm die Schwester, »und das ist eigentlich nicht dafür bekannt, dass es das Denkvermögen beeinträchtigt.«
Dad wirkte etwas irritiert. »Okay, vielleicht habe ich ja Unrecht, vielleicht bekomme ich wirklich Besuch. – Und krieg ich jetzt eine Rasur oder was?«
Vorsichtig tupfte ich meinem Vater etwas Rasiercreme ins Gesicht. Mit einem Blick über seine linke Schulter fragte er: »Helen, bist du sicher, dass du nicht auch eine Rasur willst?«
Als ich ihn einfach nur verdutzt ansah, erklärte er: »Deine Mutter lacht.«
»Was ist los, Liebes?«, fragte er, als er sah, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich habe gerade gemerkt, wie sehr ich deine und Mams Witzeleien vermisse.«
Die ganze übrige Zeit sprach er weiter mit meiner Mutter. Nachdem er eine Zeitlang still war, fragte ich ihn, ob sie immer noch im Zimmer sei.
»Ich sehe sie. Aber ich glaube es immer noch nicht so ganz. Vielleicht halluziniere ich ja doch.«
»Hör mal, ich arbeite den ganzen Tag mit Leuten, die halluzinieren, weil sie von Opiaten und Schmerzmitteln abhängig sind, aber du bekommst nichts dergleichen – das sieht überhaupt nicht nach einer Halluzination aus.
Ich kenne dich so gut. Und das hier fühlt sich genauso an, wie es war, als ihr, du und Mam, noch zusammen wart. Ich wünschte bloß, ich könnte sie auch sehen.«
Er schaute in die Richtung, in der meine Mutter stand. »Kann Angela dich sehen?«, fragte er plötzlich. Es wirkte, als übersetze er aus einer anderen Sprache, als er schließlich erwiderte: »Sie hat dich sehr lieb, aber es ist noch nicht so weit, dass du sie sehen kannst.«
»Sieht sie aus, als wäre sie, äh, aus solidem Stoff, oder wirkt sie eher wie ein Geist?«
»Sie ist ein solider Anblick – und ein hübscher dazu. Hier sind keine Geister!«, versicherte er mir. »Weißt du, als Kind habe ich gelernt, dass das kleinste Ding auf der Welt ein Atom ist. Aus, Ende! Das war Tatsache, aber heute wissen wir, dass es noch viel mehr gibt … also ist deine Mam vielleicht auch wirklich da.«
»Und wie geht es dir damit?«, fragte ich, ganz die Therapeutin.
»Ich bin glücklich! Ich bin mit meiner Frau zusammen, mit der ich seit über 60 Jahren verheiratet bin.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Du weißt, wie lieb ich dich habe, Angela. Wenn deine Mutter mich jetzt abholen kommen kann, dann kommen wir beide zu dir, wenn es für dich an der Zeit ist. Aber jetzt möchte ich, glaube ich, ein Nickerchen machen – mit meinem frisch rasierten Gesicht.«
»Das klingt gut. Ach übrigens, Trinkgeld ist nicht nötig. Geh nur und sei ein bisschen bei Mam. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb«, sagte er und schloss die Augen. Fast als träumte er, formten seine Lippen ein paar Worte, während er in seinen Nachtschlaf sank.
Dad starb am nächsten Tag. Ich weiß jetzt, dass die Liebe stärker ist, als ich es je für möglich gehalten hätte, denn nicht einmal der Tod konnte das Band zwischen meinen Eltern schwächen.
Unerwarteter Besuch
von Diane
Ich bin Therapeutin und habe im »jugendlichen« Alter von 60 Jahren gelernt, dass Visionen auf dem Sterbebett echt sind. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass wir vielleicht sogar jemand ganz anderem begegnen, als wir erwarten.
Mein leiblicher Vater starb, als ich sechs Jahre alt war, und ich wurde dann von meinem wunderbaren Stiefvater Jim großgezogen. Er heiratete meine Mutter, als ich zehn war, und meine Schwester, meine beiden Brüder und ich haben ihn von Anfang an ins Herz geschlossen. Jim hatte sieben Geschwister, also bekamen wir im selben Zug noch fünf neue Onkel und zwei Tanten dazu.
Jim wuchs ganz natürlich in seine Vaterrolle hinein; er war auf meinem Abschlussball nach der Highschool und geleitete mich zum Altar, als ich heiratete. Seine Familie und er füllten jenen Teil meiner Welt, der mir nach dem Tod meines Vaters gefehlt hatte, sehr liebevoll aus.
Jahrzehnte später bin ich nun endlich bereit, über ein Thema zu sprechen, das vielen meiner Klientinnen und Klienten wichtig ist. Natürlich hatte ich damals nicht daran
gedacht, aber mir war nie klar, dass alle diese Onkel und Tanten, die so viel Leben und Freude in meine Familie brachten, auch Tod und großen Kummer bringen würden. Im Laufe der Jahre musste ich mit ansehen, wie
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