Am Ende war die Tat
zu schnell geschmolzen, so heiß war es gewesen. Tobyhatte sich von Kopf bis Fuß bekleckert. Ihr Vater hatte sein Taschentuch ins Brunnenwasser getunkt und den kleinen Jungen gesäubert, als sie ihre Hörnchen aufgegessen hatten.
Joel hatte seit Ewigkeiten nicht an diesen Tag gedacht. Die plötzliche Erinnerung trieb ihm Tränen in die Augen.
Ohne irgendeinen Zusammenhang, den Joel hätte erkennen können, sagte Ivan: »Verstehe. Wenn wir im Voraus wüssten, welches Blatt wir bekommen, würden wir einen Plan entwickeln, wie wir unsere Karten ausspielen. Aber das Teuflische am Leben ist, dass wir genau das eben nicht wissen, und darum erwischt das Schicksal uns immer mit heruntergelassener Hose.«
Joel wollte fragen: »Was faseln Sie da eigentlich?«, aber er hielt an sich. Er wusste ganz genau, wovon Ivan sprach: gerade noch da, im nächsten Augenblick weg. Auf dem Weg, Ness von der Tanzschule zu holen, Tobys Hand in der des Vaters, und Joel war vielleicht dreißig Meter hinter ihnen zurückgeblieben, weil ein Korb voller Fußbälle vor einem Billigladen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie faszinierten ihn so sehr, dass er zuerst nicht begriff, was die vier lauten Knalle zu bedeuten hatten, die er hörte, bevor das Geschrei losging ...
»Die hab ich mitgebracht«, stieß Joel hervor und streckte Ivan hastig seine Gedichte hin.
Ivan nahm sie entgegen und ließ das gute Blatt oder wie man es spielen sollte auf sich beruhen. Stattdessen legte er die Seiten auf das Tuch und beugte sich genauso darüber, wie er sich über eine Uhr beugte. Er las und kaute auf einem Minzeblatt.
Zuerst sagte er nichts. Er nahm sich lediglich ein Gedicht nach dem anderen vor und legte ein jedes beiseite, sobald er es studiert hatte. Joel fühlte, wie seine Fußknöchel zu jucken begannen, und das Ticken der Uhren kam ihm lauter vor als sonst. Es war dumm gewesen, Ivan die Gedichte zu bringen, und innerlich beschimpfte er sich: Blödmann, Blödmann, Vollidiot, Dumpf backe, wie konntest du nur ...
Zu guter Letzt drehte Ivan sich auf seinem Stuhl um und sagte: »Die größte Sünde ist, einen Schatz liegen zu lassen,wenn man ihn gefunden hat. Das Problem ist, dass die meisten Menschen den ihren nie finden. Sie definieren nur das als einen Schatz, was sie sehen können, denn das ist es, was man sie lehrt: den Ausgang der Dinge zu betrachten. Das Ziel. Was sie nicht erkennen, ist, dass der Schatz in dem Prozess liegt, im Weg. Darin, was man mit dem anfängt, was man hat. Nicht darin, was man anzuhäufen vermag.«
Das war alles ein bisschen zu viel für Joel, also schwieg er. Er fragte sich allerdings, ob Ivan nur irgendetwas daherredete, weil er die Gedichte so dämlich fand, wie sie, so begann Joel zu argwöhnen, tatsächlich waren.
Ehe er jedoch diesen Verdacht äußern konnte, öffnete Ivan ein Holzkästchen auf seinem Tisch und holte einen Bleistift heraus. »Du hast eine natürliche Begabung für Metrum und Sprache«, sagte er, »aber gelegentlich ist das Ergebnis ein wenig zu ... naturbelassen. Und an solchen Stellen sind Schattierungen gefragt. Wenn wir uns diesen Vers anschauen ... Hier. Ich will dir zeigen, was ich meine.« Er winkte Joel an den Tisch und begann zu erklären. Er benutzte Worte, die Joel nie zuvor gehört hatte, aber er machte Markierungen im Text, um zu verdeutlichen, was er meinte. Er brachte seine Erklärungen langsam vor und mit einer aufrichtigen Freundlichkeit, die es Joel leicht machte, ihnen zu lauschen. In den Worten schwang ein Eifer, der den Gedichten selbst galt, erkannte Joel. So sehr war er in Ivans Kommentare zu seinen Versen vertieft, so fasziniert zu beobachten, wie Ivan jedes einzelne Werk verbessern konnte, dass er regelrecht zusammenfuhr, als er hinter sich die Uhren schlagen hörte: Er war schon seit fast zwei Stunden hier - eine Stunde länger, als er beabsichtigt hatte. Tobys Sommerkurs im Lernzentrum war längst vorbei.
Joel sprang auf. »Verdammter Mist!«
»Was ...?«, begann Ivan, aber mehr hörte Joel nicht. Das Einzige, was er von diesem Moment an hörte, waren seine Turnschuhe auf dem Gehweg, als er Richtung Harrow Road rannte.
16
Joel warf sich förmlich gegen die Tür des Lernzentrums. Er war außer Atem, aber als er in den Empfang stürmte, brachte er hervor: »Tobe ... tut mir leid!« Doch die einzigen Anwesenden, die ihn nun verwundert anstarrten, waren eine Mutter, die ein Baby stillte, und ein Kleinkind mit Schnuller im Mund an ihrer Seite.
Joel sah sich suchend um,
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