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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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als glaube er, Toby verstecke sich unter einem der Kunstledersofas oder hinter den beiden künstlichen Schusterpalmen. Dann eilte er zu Luce Chinakas Büro. »Wartet er denn nicht auf dich, Joel?«, fragte sie, schaute auf ihre Armbanduhr und fügte dann hinzu: »Aber solltest du nicht eigentlich schon vor ...« Sie verstummte, als sie den Ausdruck von Panik auf Joels Gesicht sah. Sie stand auf und sagte freundlich: »Komm, wir schauen uns schnell um.«
    Aber Toby war nirgendwo im Lernzentrum zu finden: nicht an den niedrigen Tischen, wo Brettspiele aufgebaut standen, nicht vor dem Bildschirm im Computerraum, auch nicht in einem der kleinen Unterrichtsräume in der Obhut eines Lehrers oder in der Spiel- oder Bastelecke. Joel ahnte Fürchterliches: Irgendwie war Toby durch die Maschen im Netz geschlüpft und allein auf die Straße hinausgegangen.
    »Komm mit«, sagte Luce Chinaka. »Wir rufen ...«, aber da war Joel schon draußen. Sein Mund war ganz trocken geworden. Er konnte nicht mehr klar denken. Er konnte sich nicht einmal mehr an den Weg erinnern, auf dem er Toby normalerweise nach Hause führte, da er ohnehin selten zweimal denselben Weg nahm. Sobald ihnen jemand entgegenkam, der Joel nicht geheuer erschien, wechselte er die Richtung, ohne Toby einen Grund zu nennen. Letztlich war jede Straße, die in Richtung Edenham Way führte, denkbar.
    Er sah den Gehweg auf und ab, weil er wider jede Wahrscheinlichkeit hoffte, Toby irgendwo zu entdecken. Aber weit und breit war niemand zu sehen: niemand, der auf Zehenspitzen einhertrippelte, niemand, der das Kabel einer Lavalampe hinter sich herzog. Joel fand sich in einer Hölle der Unschlüssigkeit. Der Gedanke an Kendra löste schließlich seine Starre. Der Laden der AIDS-Hilfe lag nur ein Stück weiter die Harrow Road entlang.
    Entschlossen machte Joel sich auf den Weg. Er ging zügig und schaute unterwegs in jedes Schaufenster. Vor einem Wettbüro saß Drunk Bob, doch auf die Frage, ob Toby zufällig hineingegangen sei, erwiderte er nur sein übliches »Oy, oy!« und rüttelte an den Armlehnen seines Rollstuhls, als wolle er Joel mehr sagen.
    Kendra bediente eine Chinesin, als Joel den Laden betrat. Sie hörte das Türglöckchen und schaute gewohnheitsgemäß auf. Als sie Joel erkannte, suchte ihr Blick Toby an seiner Seite. Dann sah sie auf eine alte Uhr, die über einem Regal mit ausgetretenen Schuhen hing, und fragte: »Wo ist dein Bruder?«
    Das sagte Joel alles, was er wissen musste. Er machte auf dem Absatz kehrt, ohne den Ruf seiner Tante zu beachten: »Joel, was ist passiert?«
    Zurück am Lernzentrum hielt er wieder inne, kaute auf seinem Daumennagel und bemühte sich, die Sache zu durchdenken. Er bezweifelte, dass sein Bruder die Straße überquert hatte und nach West Kilburn gegangen war. Blieben zwei Möglichkeiten: entweder nach rechts in Richtung Great Western Road und in eine der Straßen, die von ihr abzweigten. Oder nach links in Richtung Kensal Town.
    Joel wandte sich nach rechts und versuchte, sich in Toby hineinzuversetzen. Er nahm an, sein Bruder war den Bürgersteig entlanggetrippelt und dann irgendwann ziellos in eine Seitengasse abgebogen. Also wollte Joel das Gleiche tun, und wenn er Glück hatte, war Toby unterwegs von irgendetwas abgelenkt worden und stand jetzt vielleicht noch davor, betrachtete es gedankenverloren, sein Geist auf Wanderschaft. Odervielleicht war er auch müde geworden und hatte sich einfach auf den Bordstein gesetzt und wartete, bis irgendjemand ihn holen kam. Oder - noch wahrscheinlicher - er hatte Hunger bekommen und war in einen Süßwarenladen oder Kiosk gegangen, um die Auslage an Schokoriegeln zu betrachten.
    Joel bedachte all dies, weigerte sich, an irgendetwas anderes, vor allem etwas Schreckliches, zu denken, und bog bei erster Gelegenheit nach rechts ab.
    Identische Reihenhäuser mit Ziegelfassaden säumten die Straße. Autos standen dicht an dicht geparkt, hin und wieder war ein Fahrrad an einen Laternenpfahl oder Zaun gekettet. Den meisten Fahrrädern fehlte ein Reifen, den der Besitzer offenbar abmontiert und mit ins Haus genommen hatte. Auf mittlerer Höhe knickte die Straße nach links ab, und es war ungefähr an dieser Stelle, da Joel jemanden aus einem Lieferwagen steigen sah, einen Mann in einem blauen Overall, der vermutlich gerade von der Arbeit nach Hause kam, doch statt einfach ins Haus zu gehen, blieb er stehen, verharrte und schaute auf einen Punkt hinter der Kurve, den Joel von seinem Standort aus

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