Am Ende war die Tat
Bruder und ihre Tante erhoffen konnten.
Wäre Joel auf der Straße nicht ein Gejagter gewesen, hätte jetzt alles gut werden können. Doch an der Peripherie ihres Lebens existierte nach wie vor Neal Wyatt, und auch wenn einige Umstände sich für die Campbells zum Positiven gewendet hatten, galt das nicht für die Sache mit Neal. Er war und blieb eine Bedrohung. Er hatte eine Rechnung zu begleichen.
Respekt war nach wie vor der Schlüssel, um das wallende Blut zwischen den beiden Kontrahenten zu besänftigen. Joel für seinen Teil war fest entschlossen, diesen Respekt auf die eine oder andere Weise zu entwickeln. Nur eben nicht auf die, die Hibah ihm nahegelegt hatte: sich zu unterwerfen wie ein Hund. Joel wusste, was Hibah über das Leben in North Kensington offenbar noch nicht begriffen hatte. Es gab nur zwei Wege, um seine persönliche Sicherheit zu gewährleisten: unsichtbar zu sein beziehungsweise niemandes Interesse zu wecken. Oder aber jedermanns Respekt zu erlangen. Respekt nicht zu verschenken wie abgelegte Kleider, sondern ihn zu wecken. Ihn zu verschenken, wie Hibah vorgeschlagen hatte, bedeutete, dass man sein Schicksal besiegelte, sich zum Lakaien machte, zum Prügelknaben und zum Idioten. Doch Respekt zu wecken, hieß das Überleben seiner selbst und seiner Familie zu sichern.
Joel zählte nach wie vor auf The Blade. Seine Sicherheit und die Sicherheit seines Bruders hingen von ihm ab. Er konnte seine Schulnoten verbessern; er konnte Gedichte schreiben, die jeden bei Führt Worte statt Waffen zu Tränen rührten; er konnte sich an einem Filmprojekt beteiligen, das seinen Namen in Großbuchstaben auf die Leinwand brachte. Aber keine dieser Leistungen brachte ihm irgendeinen Vorteil in der Welt, durch die er Tag für Tag gehen musste, denn keine war geeignet, irgendjemandem Angst einzujagen. Und Angst war The Blades Geschäft. Joel wusste, um eine Allianz mit ihm zu schmieden, musste er sich auf ebendie Art beweisen, die The Blade ihm befahl.
Einige Wochen später erhielt er diesen Befehl. Joel war auf dem Weg zur Middle Row School, als er Cal Hancock am Fens-ter eines Waschsalons lehnen sah. Cal drehte sich einen Joint und sagte nur zwei Worte: »Zeit, Mann.«
»Wofür?«, fragte Joel.
»Das, was du wolltest. Falls du's immer noch wills'.« Cal wandte den Blick ab und schaute die Straße hinab auf zwei alte Damen, die Arm in Arm gingen und sich gegenseitig stützten. Cals Atem dampfte in der eisigen Luft. Als Joel nicht antwortete, wandte er sich ihm wieder zu. »Also? Ja oder nein?«
Joel zögerte. Nicht weil er fürchtete, was The Blade von ihm verlangen mochte, sondern wegen Toby. Er musste seinen Bruder von der Schule abholen und zum Lernzentrum bringen, und das würde eine Stunde dauern. Er erklärte Cal die Situation.
Doch der schüttelte nur den Kopf. Diese Antwort könne er The Blade unmöglich überbringen. Sie sei respektlos, denn sie besagte, dass irgendetwas wichtiger sei als The Blades Wünsche.
»Ich will ihm gegenüber nich' respektlos sein«, erklärte Joel. »Es is' nur, dass Toby ... Cal, er weiß doch, dass Toby nich' richtig im Kopf is'.«
»The Blade will dich heute Abend.«
»Ich werd tun, was er will. Aber ich kann Toby nich' allein von der Schule nach Haus geh'n lassen. Es wird schon dunkel, und das einzige Mal, als er's allein versucht hat, ha'm sie ihn sich geschnappt.«
Er müsse selbst eine Lösung für dieses Problem finden, sagte Cal. Wenn er das nicht könne, sei er auch nicht in der Lage, irgendwelche anderen Probleme zu lösen. Und in dem Fall müssten The Blade und er getrennte Wege gehen. Vielleicht wäre es ja besser so.
Joel überlegte fieberhaft, was er tun konnte. Die einzige Lösung schien ihm die uralte Ausrede zu sein, derer sich jedes Kind früher oder später bediente: Er beschloss, Krankheit vorzutäuschen. Er würde seine Tante anrufen und ihr erzählen, dass er sich in der Schule habe übergeben müssen, und fragen, ob sie meinte, er solle Toby trotzdem abholen. Natürlich würde sie »Nein« sagen und ihm auftragen, sofort nach Hause zugehen. Sie würde den Laden kurz abschließen und selbst loslaufen, um Toby von der Schule zum Lernzentrum zu bringen. Toby konnte anschließend bei ihr bleiben, bis es für sie beide Zeit wurde heimzugehen. Vorausgesetzt dass alles glattlief, würde Joel längst zu Hause sein, wenn sie nach Hause kamen, und in der Zwischenzeit The Blade seine Loyalität und seinen Respekt bewiesen haben.
Er bat Cal zu warten
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