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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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kamen von dort, von oben, und während er noch hinschaute, erhob sich daraus eine schattenhafte Gestalt. Kopf und Schultern schoben sich vor, dann folgte ein Bein. Die ganze Erscheinung war schwarz, bis auf die Füße, die in schmutzig weiß schimmernden Turnschuhen steckten.
    »Was zum Geier soll das, Bruder?«, fragte Joel.
    Cal hievte sich aus dem Loch im Dach und sprang behände zu Boden, eine Distanz von vielleicht drei Metern. »Biste bereit, Mann?«
    »Klar, aber was tuste da drin?«
    »Gucken.«
    »Was?«
    »Dass alles klar is\ Also komm her! Kletter rein!« Cal wies mit dem Daumen auf das Mausoleum.
    Joel schaute von ihm zu der Öffnung im Dach. »Was soll ich da drin?«
    »Warten.«
    »Worauf? Wie lang?«
    »Na ja, das isses ja grade. Das weißt du nich'. The Blade will wissen, ob du ihm traus', Kleiner. Wenn du ihm nich' traus', traut er dir auch nich'. Du bleibs' hier, bis ich dich hol, Bruder. Wenn du nich' mehr hier bis', wenn ich komm, weiß The Blade, was er von dir zu halten hat.«
    Trotz seiner Jugend erkannte Joel die Genialität dieser Prüfung. Sie lag in der schlichten Ungewissheit. Eine Stunde, eine Nacht, ein Tag, eine Woche. Und nur die eine Regel: Begib dich vollkommen in die Hand eines anderen. Beweise dich The Blade, dann ist The Blade auch willig, sich dir zu beweisen.
    Joels Mund war trockener, als ihm lieb war. »Was, wenn ich erwischt werde?«, fragte er. »Wär nicht meine Schuld, wenn ein Wächter vorbeikommt und mich rausschmeißt, oder?«
    »Welcher Wächter steckt den Kopf in 'n Grabmal, wenn er nich' muss? Wenn du schön still bis', Bruder, kommt auch keiner gucken. Biste dabei oder nich'?«
    Welche Wahl blieb ihm schon? »Bin dabei«, antwortete Joel.
    Cal half Joel, aufs Dach zu kommen. Er fühlte, wie er mit einem Schwung nach oben befördert wurde, dann saß er rittlings auf der Mauerkrone und sah hinunter in die Dunkelheit. Er konnte nur schemenhafte Formen erkennen, von denen eine aussah wie ein Toter unter einem Leichentuch aus verfallendem Laub. Bei dem Anblick schauderte er, und er sah zurück zu Cal, der ihn schweigend beobachtete. Joel atmete tief durch, schloss die Augen und sprang ins Innere des Grabmals.
    Er landete auf Blättern. Sein Schuh sank in eine modrige, feuchte Vertiefung, und er spürte die nasse Kälte um sich herum aufsteigen. Er schrie auf und sprang zurück. Halb rechnete er damit, dass sich ihm die Hand eines Gerippes entgegenstrecken würde, das die Erlösung aus dem feuchten Grab suchte. Er konnte praktisch nichts sehen, und er hoffte, dass seine Augen sich schnell von der Dämmerung auf dem Friedhof auf die Finsternis hier im Innern der Kammer einstellen würden, damit er erkennen konnte, mit wem - oder mit was - er seine Zeit verbringen würde.
    Cals Stimme kam wie ein Flüstern aus der Ferne: »Alles klar, Mann? Biste drin?«
    »Ich bin okay«, antwortete Joel wider besseres Wissen.
    »Halt durch, bis ich wiederkomm!« Dann verschwand Cal mit einem Rascheln durch die Hecke.
    Joel unterdrückte einen Protestlaut. Das war doch ein Klacks, sagte er sich. Es diente doch nur dazu, The Blade zu beweisen, dass er das Zeug dazu hatte, etwas durchzustehen.
    Seine Hände fühlten sich klamm an, also rieb er sie an den Seitennähten seiner Hose. Er erinnerte sich, was er von dem Gemäuer gesehen hatte, bevor er hineingesprungen war. Er wappnete sich für den Anblick einer Leiche und betete sich vor, dass sie doch schon lange tot und nur nicht anständig beerdigt wäre. Er hatte noch nie einen Toten gesehen, der lange im Freien gelegen hatte, der Witterung ausgesetzt, verwesend und mit fauligem Fleisch, grinsenden Zähnen und Würmern, die die Augen auffraßen ... Die Vorstellung, dass so eine Leiche irgendwo gleich hinter ihm lag, ließ Joels Lippen erbeben. Er zitterte am ganzen Leib, und er erkannte, dass die Nachtkälte hier drinnen durch das feuchte Mauerwerk noch verschlimmert würde. Er dachte an zu Hause. An seine Tante, seinen Bruder, seine Schwester, sein Bett, Abendessen am Küchentisch und anschließend ein Zeichentrickvideo zusammen mit Toby vor dem Fernseher. Doch dann verbat er sich solche Gedanken. Sie trieben ihm Tränen in die Augen. Er benahm sich wie jemand, der nicht einmal mit der kleinsten Krise klarkam, hielt er sich vor. Er führte sich vor Augen, wie mühelos Cal aus diesem Grabmal geklettert war. Er war hier nicht gefangen. Und er musste auch nichts tun, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt brachte. Er musste bloß warten, und den

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