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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Mut dafür würde er doch wohl aufbringen können.
    Ein wenig beruhigt, zwang er sich zu handeln: Er konnte schließlich nicht ewig hier mit dem Gesicht zur Wand stehen, nur weil er den Raum mit einem Toten teilte. Mit fest zugekniffenen Augen machte er eine halbe Drehung. Er ballte die Fäuste und öffnete langsam die Lider.
    Jetzt, da sein Blick sich auf die Dunkelheit eingestellt hatte, erkannte er, was er zuvor nicht hatte ausmachen können: eine Gestalt. Ihr fehlte die Nase. Die Wange war teilweise eingedellt. Der Rest war in ein Gewand gehüllt, dessen Falten durch das gefallene Laub schimmerten. Alles war weiß: der Körper,die Haare, die auf dem Bauch gefalteten Hände und das Gewand. Alles aus Stein, erkannte Joel - eine Statue, die den Sarg schmückte.
    Über den Füßen der Statue lag eine zusammengefaltete karierte Wolldecke. Sie war nicht mit Laub bedeckt, was bedeutete, dass sie erst kürzlich hierhergebracht worden war - wahrscheinlich für ihn. Er hob sie hoch, und darunter entdeckte er zwei Flaschen Wasser und zwei eingeschweißte Sandwichs. Er würde es also ein Weilchen hier aushalten müssen.
    Er entfaltete die Decke und legte sie sich um die Schultern. Dann stemmte er sich am Fußende auf den Sarg und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein.
    An diesem Abend kam Cal Joel nicht mehr holen. Auch nicht am nächsten Tag. Die Stunden krochen dahin, und die fahle Wintersonne schickte keinen einzigen wärmenden Strahl in Joels Versteck. Trotzdem blieb er dort. Dies hier war eine Investition in die Zukunft. Und auch wenn ihm kalt war und er trotz der Sandwichs von Minute zu Minute hungriger wurde, er sich mehr als einmal in einer Ecke des Raums erleichtern musste, die er anschließend mit Laub bedeckte, auch wenn er kaum ein Auge zutat in dieser Nacht und jedes Geräusch ihn aufschrecken ließ, so sagte er sich doch, dass er eine Belohnung dafür bekommen würde, die all das wert war.
    In der zweiten Nacht kamen ihm allerdings Zweifel. Er fing an zu glauben, dass The Blade ihn hier auf dem Friedhof von Kensal Green sterben lassen wollte. Ihm war klar, wie leicht das passieren könnte: Er war ja schon in einem Grab, das seit Jahren nicht geöffnet worden war und vermutlich nie wieder geöffnet würde. Er und Cal waren bei einsetzender Dunkelheit hergekommen, und selbst wenn sie jemand auf den Friedhofseingang hatte zugehen sehen, hatte der Beobachter sich bestimmt nichts dabei gedacht, führte doch derselbe Weg zu vielen Zielen: zur U-Bahn, zum Superstore auf der anderen Seite des Kanals und nach Wormwood Scrubs.
    Als ihm diese Dinge durch den Kopf gingen, erwog er hinaus-zuklettern. Er untersuchte die Innenwände und stellte erleichtert fest, dass es kein Problem wäre, die drei Meter hohe Mauer zu erklimmen. Doch die Liste der möglichen Konsequenzen, die sein Ausbruch nach sich ziehen würde, hielt ihn zurück. Was, wenn er genau in dem Moment nach draußen kletterte, da Cal zurückkam? Was, wenn The Blade in der Nähe war, die Stelle observierte und Zeuge seiner Schande würde? Was, wenn ein Friedhofsgärtner oder ein Wächter ihn sah? Was, wenn er geschnappt und schon wieder zur Polizei geschleppt würde?
    Was seine Familie betraf und all die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängten, so mied Joel sie in der zweiten Nacht. Seine Tante, sein Bruder und seine Schwester waren nur schwache, flackernde Lichtpunkte auf dem Radarschirm seines Bewusstseins.
    Die zweite Nacht verging langsam. Es war schrecklich kalt, und ein leiser Niesei steigerte sich langsam zu einem anhaltenden, windgepeitschten Regen, der Joels Decke durchnässte und schließlich die Hose seiner Schuluniform. Sein einziger Schutz gegen das Wetter war sein Anorak, aber auch der würde spätestens bei Tagesanbruch nutzlos sein, wenn der Regen nicht nachließ.
    Der Himmel verblasste, als er endlich die Geräusche hörte, auf die er gewartet hatte: das Rascheln von Zweigen und das Schmatzen von Turnschuhen auf nassem Untergrund. Dann Cals leise Stimme: »Biste noch da, Bruder?«
    Joel, der im unzureichenden Schutz des löchrigen Schieferdaches hockte, kam mit einem Stöhnen auf die Füße. »Hier, Bruder«, antwortete er.
    »Hast ja super durchgehalten. Schaffste's allein raus?«
    Joel war nicht sicher, sagte aber: »Kein Problem.« Ihm war schwindlig vor Hunger, und die Kälte hatte seine Glieder steif werden lassen. Das wär jetzt echt das Allerletzte, dachte er, wenn er sich bei dem Versuch, hier rauszuklettern, den Hals

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