Am Ende war die Tat
»Scheiße«, schimpfte Six, und dann an Ness gewandt: »Komm mit.«
Neben einem der drei ungemachten Betten im Schlafzimmer warf eine unbeschirmte Glühbirne einen dürftigen Lichtkegel auf einen schmierigen Teller. Ein halb vertilgtes, vertrocknetes Sandwich lag darauf. Daneben stand das Telefon. Six griff zum Hörer und tippte eine Nummer ein. Wer immer am anderen Ende war, hob sofort ab.
Six sagte: »Wo bis' du? ... Was glaubs ' du denn, wer hier is', Mann? ... Ja. Okay. Also ... Wo? ... Scheiße, wie viele musste denn noch? ... Ach, vergiss es. Wir geh'n ein, wenn wir so lang warten ... Quatsch. Ich ruf Cal an ... Ha. Frag mich doch ma', ob mich das kümmert.« Ohne ein Wort des Abschieds brach sie das Gespräch ab und bemerkte: »Das wird nicht einfach, Süße.«
»Wer ist Cal?«, wollte Ness wissen. »Und wen haste angerufen?«
»Kann dir doch egal sein.« Sie wählte wieder. Dieses Mal dauerte es einen Moment, ehe sie fragte: »Cal, bis' du's ... Wo is' er? Ich hab hier jemand, der brauch'...« Sie warf Ness einen fragenden Blick zu. Was brauchte sie? Crack, Ecstasy, Tranquilizer, Crystal ? Was?
Ness antwortete nicht so schnell, wie Six oder ihr Gesprächspartner es offenbar wollten. Gras wäre ihr recht gewesen. Wenn gar nichts anderes ging, wäre sogar der Jack Daniel's akzeptabel gewesen, wenn denn noch etwas in der Flasche gewesen wäre. Im Moment wollte sie einfach nur fliehen - und zwar aus ihrem eigenen Körper.
»Gras? ... Ja, aber wo hängt er denn rum? ... Ach du Scheiße ... Ach du Scheiße ... Die könn ' doch nich ' ... Oh ja, ich wette drauf, dass der Typ noch 'n paar Asse im Ärmel hat.«
Sie beendete das Telefonat mit den Worten: »Hoffentlich liebt dich irgendwer außer deiner Mami.« Dann legte sie das Telefon beiseite und wandte sich wieder zu Ness. »Oberste Liga, Süße«, sagte sie. »Die Quelle aller Quellen.« »Wo?«
Sie grinste. »Polizeiwache Harrow Road.«
Das war alles, was Six für Ness zu tun bereit war. Mit ihr zur Polizeiwache zu gehen, kam nicht infrage. Greve wartete im Wohnzimmer auf sie. Sie erklärte Ness, dass sie einen Typen namens The Blade treffen müsse, wenn sie unbedingt stoned werden wollte und nicht abwarten konnte, um auf anderem Wege Vergessen zu finden. The Blade wurde - nach Auskunft seiner rechten Hand Cal - derzeit auf der Polizeidienststelle Harrow Road festgehalten und musste Fragen bezüglich eines Einbruchs in eine Videothek an der Kilburn Lane beantworten.
»Und wie soll ich diesen Typen erkennen?«, fragte Ness.
»Oh, glaub mir, Süße, den erkennste, wenn du ihn siehs'.«
»Und woher soll ich wissen, dass sie ihn wieder laufen lassen, Six?«
Ihre Freundin lachte über die Naivität dieser Frage. »Süße, das ist The Blade. Die Cops sind nicht so blöd, ihm in die Quere zu kommen.« Sie winkte Ness und kehrte zu Greve zurück, kletterte auf seinen Schoß, hob seinen Kopf und streifte die Träger ihres winzigen BHs ab. »Na los«, sagte sie. »Es is' so weit, Mann.«
Ness schauderte bei dem Anblick. Hastig verließ sie die Wohnung.
Sie hätte jetzt nach Hause gehen können, aber sie war auf einer Mission, die es um jeden Preis zu erfüllen galt. Also machte sie sich auf den kurzen Weg die Bravington Road hinab zur Harrow Road, die zu dieser späten Stunde mit den finsteren Gelichtern der Gegend bevölkert war: Betrunkene in Hauseingängen, Rudel von Halbwüchsigen in Kapuzenshirts und Schlabberjeans und ältere Männer mit unlauteren Absichten. Sie legte ein flottes Tempo vor, und ihr Gesichtsausdruck war abweisend. Bald erreichte sie die Polizeidienststelle, die die Südseite der Straße dominierte. Eine blaue Lampe beleuchtete eine Treppe, die zu einer imposanten Eingangstür hinaufführte.
Ness rechnete nicht damit, dass sie den Mann erkennen würde, zu dem Six sie geschickt hatte. Um diese Stunde war viel Kommen und Gehen auf der Wache, und jeder Mann, den sie sah, hätte The Blade sein können. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie ein Einbrecher aussehen mochte, aber alles, was ihr einfiel, war eine schwarz gewandete Gestalt. Darum hätte sie The Blade um ein Haar übersehen, als er schließlich aus dem Gebäude kam, eine Baskenmütze aus der Tasche zog und sie sich auf den kahlen Kopf setzte. Er war schlank und eher klein, nicht viel größer als Ness, und wäre er nicht unter der Lampe stehen geblieben, um ein Streichholz an seine Zigarette zu führen, hätte sie ihn für eines der vielen Nachtschattengewächse dieser Gegend
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