Am Fluss des Schicksals Roman
lästiges Katzenjunges fortgejagt hatte, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden.
Mary blickte Joe an. »Sollen wir es wagen und sie behalten?«
Joe sah den Ausdruck der Hoffnung in den Augen seinerFrau. Er wusste, dass Mary ohne ein Kind nie vollkommen glücklich gewesen war. »Wir könnten bei den Behörden anfragen, ob wir sie adoptieren können«, sagte er.
»Das ist nicht so einfach, wie ihr glaubt«, wandte Ned ein. »Und in der Zwischenzeit wird die Kleine in ein Waisenhaus gesteckt und muss auf eure Zuneigung verzichten.« Erneut sprach Ned aus eigener Erfahrung. In diesen schweren Zeiten wollten nur sehr wenige Paare ein Kind adoptieren. Deshalb hatten diejenigen, die vermögend waren und es sich leisten konnten, eine riesige Auswahl.
»Aber was erzählen wir den Leuten, wenn wir die Kleine behalten?«, wollte Mary wissen.
Joe, der noch gar nicht fassen konnte, dass er ernsthaft über die Möglichkeit nachdachte, das Baby zu behalten, blickte Ned an, der auf alles eine Antwort zu haben schien.
»Was meinst du, Ned?«
»Ihr seid neu in dieser Gegend, nicht wahr?«, fragte Ned.
Joe und Mary nickten.
»Dann wissen nur wir drei, dass die Kleine nicht euer leibliches Kind ist.« Ned blickte Mary an. »Und was die Leute betrifft – du hast das Mädchen heute Nacht zur Welt gebracht.«
»Aber was ist mit Ezra Pickering? Er hat gesehen, dass ich nicht schwanger bin. Ebenso Silas und Brontë Hepburn.«
»Du hast doch im Hotel am Tisch gesessen, als die Hepburns sich vorgestellt haben«, erwiderte Joe. »Die haben bestimmt nicht darauf geachtet, ob du schwanger bist. Und bei der Begegnung mit Ezra hattest du einen weiten Mantel an.«
Die Blicke Marys und Joes richteten sich wieder auf das kleine Mädchen. Es war so winzig, so hilflos, und brauchte dringend die Liebe eines Menschen. Marys Mutterinstinkt war nun vollends erwacht. Als Joe den zärtlichen Ausdruck in den Augen seiner Frau sah, wusste er, dass sie das Baby fest ins Herz geschlossen hatte.
Den Blick auf das kleine Mädchen gesenkt, flüsterte Mary: »Man hat dich zwar nach deiner Geburt verstoßen, aber Joe und ich werden dich von ganzem Herzen lieben, solange wir leben.«
»Wie wollt ihr sie nennen?«, fragte Ned lächelnd, froh, dass diesem winzigen Wesen eine Kindheit ohne Liebe erspart blieb, wie er sie durchlitten hatte.
Mary hob den Blick. »Sie verdient einen besonderen Namen, insbesondere nach dem, was sie schon in den ersten Stunden ihres Lebens durchgemacht hat.« Sie lächelte. »Mir hat ›Francesca‹ schon immer gefallen. Ein schöner Name für ein schönes kleines Mädchen.«
Als wüsste es, dass alles in Ordnung ist, streckte das Baby in diesem Moment die Beinchen, sodass eines unter dem Tuch hervorrutschte. Mary bemerkte ein Muttermal an seinem Oberschenkel.
»Schaut euch das mal an«, sagte sie. »Sie hat ein Muttermal.« Sie strich mit dem Finger darüber. »Es sieht wie ein winziger Stern aus.« Sie sah zu Joe und Ned, und ihr Lächeln wurde strahlender. »Ich wusste gleich, dass sie etwas Besonderes ist.« Sie berührte die winzige Nase des Babys und fuhr fort: »Francesca ... Starr ... Callaghan. Wie hört sich das an?«
Ned und Joe lächelten.
»Sehr schön«, meinte Ned.
»Der richtige Name für eine Prinzessin«, sagte Joe. »Unsere kleine Prinzessin.«
1
Echuca, 1883
A ls Francesca Callaghan aus dem Zug stieg, der aus Melbourne kam, vernahm sie mit Erstaunen den Lärmpegel im Hafen. Das Schwappen des Wassers, das durch die rotierende Bewegung der Schaufelräder entstand, und gellende Pfiffe bildeten die Hintergrundkulisse zu den Rufen der Männer, die auf dem Pier arbeiteten. Einen Moment lang fühlte Francesca sich von dem geschäftigen Treiben geradezu überwältigt ... bis ein abscheulicher Geruch zu ihr drang, sodass sie sich ihr nach Rosen duftendes Taschentuch vor die Nase hielt.
Die Hafenarbeiter verluden Wollballen, Talg, Tee, Kaffee, Kleie, Zucker und Rosinen. Zur Fracht gehörten aber auch Hunderte kahl geschorene Schafe. Ihre blutigen Schnittwunden sonderten Verwesungsgeruch ab und lockten Millionen Fliegen an. Zu allem Unglück wurde am Ende des Piers auf dem Ufer eine Kleinviehauktion veranstaltet, bei der Schafe, Ziegen, Ferkel und Hühner versteigert wurden. Beim Bieten herrschte ein rauer Ton, und der Gestank der Tiere wurde von der frischen Brise herübergetragen. Ein Glück, dass es an diesem Tag nicht so heiß war.
Bevor Francesca sich ein umfassendes Bild von ihrer Umgebung
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