Am Fluss des Schicksals Roman
machen konnte, wurde sie plötzlich von Arbeitern zur Seite gedrängt, die sich anschickten, die Güterwagons am Zugende zu entladen, wobei sie die Passagiere zur Eile antrieben, um mit der Arbeit anfangen zu können. Da Francesca seit vielen Jahren an das Leben in der Stadt gewöhnt war – sie war in Melbourne zu Hause –, wirkten dasDurcheinander und das raue, mitunter primitive Leben auf dem Land wie ein Schock auf sie. Doch Francesca genügte ein kurzer Blick auf den Fluss, der friedlich inmitten des Tumults dahinströmte, um zu wissen, dass es richtig gewesen war, ihre Stelle in Kennedy’s Eisenwarenladen aufzugeben.
Francesca war am Fluss nahe Echuca geboren, ein Ort, den sie trotz ihrer langen Abwesenheit als ihr wahres Zuhause betrachtete. Dennoch kam sie sich wie eine Fremde vor, als sie nun zum Pier ging, ihren kleinen Koffer umklammernd. Zugleich brannte sie innerlich vor Vorfreude. Sie war ganz aufgeregt, wieder daheim zu sein – aber auch ein wenig besorgt, wie ihr Vater reagieren würde, wenn er erfuhr, dass sie ihre Stelle bei den Kennedys aufgegeben hatte, ohne ihm Bescheid zu sagen. In ihren Briefen hatte sie ihm immer wieder geschrieben, wie unglücklich sie sei und dass die Kennedys sie zwar für die Buchführung eingestellt hätten, sie letzten Endes aber als Haus- und Kindermädchen für die schwangere Mrs Kennedy eingesetzt werde, zumal diese seit beinahe achtzehn Jahren ein Kind nach dem anderen zur Welt brachte – mittlerweile insgesamt dreizehn an der Zahl, darunter fünf Kleinkinder. Francesca war gar nicht dazu gekommen, sich um ihre geliebte Buchführung zu kümmern, da sie ständig damit beschäftigt war, die Kleinen zu füttern, zu wickeln und ihnen die winzigen Rotznasen abzuwischen. Nachdem ihr Vater auf ihren letzten Brief nicht geantwortet hatte und Frank Kennedy ihr vorwarf, sie würde die Buchführung vernachlässigen, hatte Francesca nach dem letzten Strohhalm gegriffen. Sie hatte ihren Koffer gepackt und mit dem Zug die Heimreise angetreten.
Im Alter von gerade siebzehn hatte Francesca ihre Schulausbildung im Mädcheninternat Pembroke in Malvern, einem Vorort von Melbourne, abgeschlossen und anschließend die Stelle als Buchhalterin bei den Kennedys angenommen. Die Kennedys hatten zur selben Zeit auf den Goldfeldern gearbeitet wie Joe und Mary. Auch wenn wegen des erbittertenKonkurrenzkampfes und der Geheimniskrämerei auf den Goldfeldern selten Freundschaften entstanden, hatten Mary und Joe sich damals Frank und Ida Kennedys angenommen, zumal diese in ihrem jungen Alter völlig unerfahren gewesen waren. Auch nachdem Frank und Ida in Melbourne ein Geschäft übernommen hatten, war der Kontakt nicht abgerissen. Joe hatte in einem Brief an die beiden erwähnt, dass Francesca ihre Schulausbildung abgeschlossen habe und eine Anstellung suche, worauf Frank geantwortet hatte, sie bräuchten jemanden für die Buchführung, sodass Francesca versorgt schien.
Damals schien es die perfekte Lösung zu sein, zumal Joe das Gefühl hatte, seine Tochter ruhigen Gewissens den Kennedys anvertrauen zu können, die ihr überdies ein Mansardenzimmer in ihrem Haus zur Verfügung stellten. Damals hatte Joe sogar die Hoffnung gehegt, Ida würde eine Art Ersatzmutter für Francesca werden, mit der sie von Frau zu Frau über die Probleme sprechen konnte, die jedes Mädchen in der Pubertät hat, wenn die Gefühlswelt auf dem Kopf steht und sich zugleich der Körper verändert.
Während Francesca nun über den Pier schritt und Ausschau nach der Marylou hielt, war ihr gar nicht bewusst, dass sie die Aufmerksamkeit der Hafenarbeiter auf sich zog. In ihrem bezaubernden Kleid aus burgunderfarbenem Brokatstoff und mit ihrem Spitzenhäubchen stach ihr Anblick in der grauen Menschenmenge auf der schlammigen Hafenpromenade nur zu deutlich heraus.
Sie war in Gedanken bei ihrem Vater und ihrer ungewissen Zukunft, sodass sie zusammenfuhr, als ein Hafenarbeiter ihr laut zurief: »Wohin des Weges, hübsche Lady?« Im ersten Moment war Francesca gar nicht bewusst, dass der Mann zu ihr sprach. Vielmehr vermutete sie, dass seine Frage an eine der auffällig gekleideten Damen gerichtet war, die am Pier um »Kunden« warben. Erst als sie erkannte, dass der Hafenarbeiter ihr etwas zugerufen hatte, blieb sie stehen. Keinemder Männer war entgangen, dass sie jung und ohne Begleitung war und ein wenig verloren wirkte, und so betrachteten sie Francesca als willkommene Ablenkung von ihrer schweren Arbeit.
Mittlerweile
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