Am Fluss des Schicksals Roman
zurück ans Ufer geschafft.«
»Ob ich einen Schutzengel hatte, kann ich nicht sagen, aber ohne Joe hätte ich es bestimmt nie geschafft.«
Plötzlich sah Mary, dass wässriges Blut aus einem von Neds Stiefeln sickerte. »Du hast dich verletzt!«
Ned folgte ihrem Blick und wurde blass. »Nein ... dasist nichts. Ich hab ein bisschen Wasser geschluckt, aber das bringt mich nicht um.« Er zog seinen Stiefel zurück, um ihn zu verbergen.
»Zieh den Stiefel aus, Ned. Ich möchte sehen, woher das Blut kommt.«
»Es ist nichts, Mary, ehrlich. Wahrscheinlich nur ein Kratzer am Bein.«
Nicht zum ersten Mal spürte Mary, dass Ned irgendetwas verheimlichte. »Für einen Kratzer blutet es zu stark. Zieh jetzt den Stiefel aus, Ned«, wiederholte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Ned gab sich geschlagen, zumal er keine Kraft mehr hatte, sich zu widersetzen. Da die Schmerzen in seinem Fuß schlimmer waren als zuvor, hatte er im Grunde ohnehin keine andere Wahl, als den Stiefel auszuziehen. Das würde ihn zwar seinen Job kosten, aber es musste sein.
Als Ned langsam den Stiefel abstreifte, stöhnte er laut vor Schmerz. Es fühlte sich an, als würde ihm das Fleisch von den Knochen gezogen. Es war eine Wohltat, als er den Stiefel endlich vom Fuß hatte und der unerträgliche Druck nachließ, doch gleich darauf erschrak er beim Anblick seiner Socke. Sie war mit Blut getränkt. Als er die Socke vorsichtig von seinem Fuß abschälte, erschrak Mary heftig.
»Oh, Ned ...« Auf dem Fußrücken war eine tiefe, klaffende Wunde. »Du lieber Himmel, wie ist denn das passiert?« Es war offensichtlich, dass Ned sich die Verletzung nicht im Wasser zugezogen haben konnte.
»Der Axtstiel ist abgebrochen, und die Klinge schlug mir in den Stiefel. Ich kann von Glück sagen, dass sie keinen Knochen erwischt hat.«
»Vor allem kannst du von Glück sagen, dass du noch alle Zehen hast. Wann ist das passiert?«
»An dem Morgen, als ich zu dir und Joe kommen sollte. Ein Mann, mit dem ich zusammengearbeitet habe, hat mirdieses Paar alte Stiefel geschenkt. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich den Fuß drinhatte. Darum bin ich zu spät zum vereinbarten Treffpunkt gekommen.«
Jetzt verstand Mary, weshalb Ned die Stiefel nicht einmal zum Schlafen ausgezogen hatte. »Du musst dich ja furchtbar gequält haben«, sagte Mary leise.
Ned begnügte sich mit einem kurzen Nicken.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich hatte großes Glück, dass ich diese Arbeit hier bekommen habe. In meinem Alter findet man nicht so schnell eine Anstellung.«
»Du kannst in den nächsten Tagen keinen Stiefel tragen, Ned. Sonst könnte sich die Wunde am Fuß entzünden und Wundbrand entstehen.«
In Neds Gesicht breitete sich Enttäuschung aus. »Aber ich kann ohne Stiefel nicht arbeiten, Mary.«
»Du wirst auch nicht arbeiten, Ned, sondern zusehen, dass du wieder gesund wirst.« Mary blickte in seine blauen Augen und wusste, was er gerade dachte. »Wenn es darauf ankommt, ist auf Joe Verlass, Ned.«
Bevor Ned etwas entgegnen konnte, tauchte Joe auf.
»Ich hab zwar niemanden gefunden, aber im nassen Sand am Ufer waren Schuhabdrücke, ganz in der Nähe der kleinen Bucht. Für einen Mann waren sie zu klein, und da die Ureinwohner keine Schuhe tragen, liegt der Verdacht nahe, dass sie von einer weißen Frau stammen.« Joe machte ein betretenes Gesicht. »Da waren auch frische Spuren von einer Geburt ...« Plötzlich fiel sein Blick auf Neds Fuß. »Du lieber Himmel. Das sieht ja schlimm aus, Ned.«
Als Ned keine Antwort gab, berichtete Mary ihrem Mann, was geschehen war. »Der Griff von seiner Axt ist abgebrochen, und die Klinge ist durch den Stiefel in seinen Fuß gedrungen«, erklärte sie. »In den nächsten Tagen kann er keinen Stiefel tragen.«
»Ja. Du musst schlimme Schmerzen haben, Ned, und ich kann dir nicht mal einen Schluck Whisky anbieten.«
Ned war sprachlos. Offenbar verschwendete Joe keinen Gedanken daran, dass er, Ned, jetzt als Arbeitskraft ausfiel.
Jetzt begriff Joe, weshalb Ned die ganze Zeit gehumpelt hatte. Und nun erkannte er auch, dass Ned die Verletzung verschwiegen hatte aus Angst, seine Arbeit zu verlieren. »Mary kann dir den Fuß verbinden, Ned«, sagte er.
»Das Holzhacken schaffe ich schon noch«, meinte Ned und klammerte sich an einen Hoffnungsschimmer.
»Nichts da. Das Holzhacken übernehme ich.«
Ned ließ den Kopf hängen.
»Du bleibst an Bord, Ned. Wie wär’s, wenn du den Kessel anfeuerst? Dafür brauchst du
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