Am Fluss des Schicksals Roman
wo sie unruhig auf und ab wanderte. Selbst die Uferpromenade wirkte trostlos und finster.
»Wo bleiben sie bloß?«, murmelte Francesca. In diesem Augenblick zerschnitt ein dumpfes Stöhnen die Stille, sodass sie zusammenfuhr. Sie wirbelte herum, doch in der Dunkelheit war niemand zu erkennen. »Wer ist da?«, fragte sie zaghaft und spitzte die Ohren, erhielt aber keine Antwort. Kurz darauf hörte sie erneut, wie jemand stöhnte. Es hörte sich an, als ob die Person verletzt oder in Not war.
Vorsichtig, fast lautlos, ging sie über den Pier. Zwei Lampen an der Uferpromenade und zwei weitere in der Nähe der Wollballen spendeten ihr ausreichend Licht, um zu sehen, wohin sie ihren Fuß setzte. Längsseits der Marylou hatten mehrere andere Schiffe festgemacht, aber keins davon war bewohnt. Auf der Mole neben den Schuppen lagerten Wollballen und Fässer mit Zuckersirup für den Transport am nächsten Morgen. Als Francesca dort vorüberkam, spähte sie in die dunklen Zwischenräume ... und fuhr erschrocken zusammen.
In einem Strahl fahlen Mondlichts sah sie einen nackten Fuß, der hinter den Ballen hervorragte, aber noch während sie verwundert darauf starrte, wurde der Fuß ins Dunkel gezogen.
»Sie können ruhig hervorkommen«, sagte sie in sanftem Tonfall. »Ich tue Ihnen nichts.«
Daraufhin vernahm sie ein Schluchzen, das ihr beinahe das Herz zerriss. »Es wird alles gut. Bitte, kommen Sie hervor«, sagte sie, ging in die Hocke und spähte zwischen die Wollballen. Sie spielte mit dem Gedanken, sich hineinzuzwängen, hatte aber Angst vor dem, was ihr dort begegnen würde. Schließlich aber erkannte sie, dass sie keine andere Wahlhatte. Wer immer dort drinnen sein mochte, hatte noch viel größere Angst, herauszukommen.
Auf allen vieren bewegte Francesca sich zwischen den Ballen voran, bis sie eine zusammengekauerte Gestalt in einem engen Spalt entdeckte, die wie ein verängstigtes Tier wimmerte. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, und nach und nach erkannte sie das zerschundene und blutende Gesicht einer Frau, die ihr fremd war. Francesca versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen, als ihr der Gedanke kam, dass vermutlich nicht einmal die eigene Mutter ihre Tochter in diesem Zustand wiedererkennen würde.
»Fran... Francesca«, stammelte die Frau plötzlich.
Mit dem Wiedererkennen kam der Schock. »Mein Gott! Sind Sie das, Lizzie ...?« Francesca wäre niemals darauf gekommen, Lizzie Spender vor sich zu haben. Sie war in einem noch schlimmeren Zustand als beim ersten Mal, als Francesca sie in der Gasse aufgefunden hatte. Sie wusste nicht, welches Gefühl stärker war, ihr Entsetzen oder ihr Zorn, doch sie riss sich zusammen und konzentrierte sich auf Lizzie, die hustend und würgend Blut auf ihr zerrissenes Kleid spuckte.
»Kommen Sie da raus, Lizzie. Ich helfe Ihnen«, sagte Francesca mit zitternder Stimme.
Lizzie schüttelte wild den Kopf. Sie war aus dem Bordell geflüchtet, nachdem sie mit einer Lampe nach Silas geworfen hatte. Er hatte sie verfolgt und ihr gedroht, sie umzubringen, während die anderen Mädchen entsetzt gekreischt hatten.
»Ich möchte Ihnen helfen, Lizzie, bitte«, flehte Francesca. »Außer uns ist keine Menschenseele hier, und wenn ich Sie hier liegen lasse, sterben Sie vielleicht. Die Nacht wird bitterkalt, und Sie sind schlimm verletzt.« Da Lizzie sich nicht rührte, griff Francesca nach ihrer Hand und brachte sie schließlich dazu, aus ihrem Versteck hervorzukommen, indem sie ihr immer wieder versicherte, dass niemand in derNähe war. Als sie im Freien war, sah sich Lizzie wie ein verängstigtes Tier um. Dann versuchte sie sich aufzurichten. Vor Schmerz schrie sie auf und hielt die Hand an ihre Rippen. Francesca nahm Lizzies freien Arm, legte ihn sich um die Schulter, stützte sie beim Gehen und führte sie zur Marylou und in die Vorderkajüte, wo Lizzie darauf bestand, die Tür von innen zu verriegeln.
Nachdem Francesca sie auf die Sitzbank verfrachtet hatte, zündete sie eine Petroleumlampe an. Vor Entsetzen stockte ihr der Atem, als sie sah, wie schwer Lizzies Verletzungen waren. Ihre Nase war gebrochen; sie hatte Blutergüsse im Gesicht, und eines ihrer Augen war zugeschwollen. Ihre Lippen waren aufgerissen und bluteten.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte Francesca, zitternd vor Wut.
Lizzie gab keine Antwort.
»Sie sollten unbedingt zur Polizei gehen, Lizzie. Wer immer das getan hat, muss vor Gericht gestellt werden!«
In tiefer
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