Am Fuß des träumenden Berges
überraschte den Bwana. Er wendete das Buch hin und her. «Ich dachte, das sei … Ah, egal.»
«Der Händler hat gesagt, damit lernen eure Kinder lesen.»
«Das ist richtig.»
«Es sind viele Bilder drin. Aber diese … Zeichen. Die verstehe ich nicht.»
«Man nennt sie Buchstaben.» Bwana Winston legte die Hand auf Kinyuas Schulter. «Komm, wir gehen zum Haus. Mir fehlt die Zeit, dich zu unterrichten, und wir haben im Moment keinen Missionar hier. Aber es wird sich was finden.»
Auf dem Weg zum Haus schwiegen sie, bis der Bwana plötzlich fragte: «Warum willst du eigentlich lesen lernen?»
Darüber musste Kinyua nicht lange nachdenken. Er schaute auf seine Zehen, die sich in den roten Staub bohrten. «Meine Kinder werden lesen lernen und ihre Kinder ebenso. Überall werden Häuser gebaut, in denen die Missionare den Kindern etwas über eure Religion erzählen und über diese Zeichen und wie man sie deutet.»
Bwana Winston nickte. «Das ist der Fortschritt. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs.»
«Ich will nicht irgendwann dümmer sein als meine Kinder oder meine Enkel. Ich will mit ihnen lesen und mit ihnen verstehen, was die weißen Männer sagen. Ihr sagt alles Wichtige nur auf dem Papier.»
«Das stimmt.»
«Und ich will die Geschichten der Wazungu kennenlernen. Ihr könnt sie niemandem erzählen, weil sie in den Büchern wohnen und euer Verstand verkümmert.»
«Wir haben viele Geschichten, die kann sich kein Mensch merken.»
Kinyua warf Bwana Winston einen finsteren Blick zu. «Ihr versucht es ja nicht mal.»
Die Memsahib saß mit einer anderen Weißen auf der Veranda, als sie sich dem Haus näherten. Kinyua blieb in einiger Entfernung stehen. Schönheit, dachte er, findet ein Mann in tausend Gestalten. Ein Löwe, der eine Gazelle reißt, ist wunderschön in seiner Kraft. Das Lied der Frauen auf dem Feld ist schön. Die Luft schmeckt nach langer Dürre saftig, sobald der erste Regen fällt. Auch das ist wunderschön.
Aber für ihn gab es nichts Schöneres auf der Welt als diese Frau in ihrer hellen Bluse und dem dunkelblauen Rock. Er beobachtete sie aus der Ferne. Er hielt Abstand.
In den letzten Wochen hatte er kein Interesse mehr daran, sich eine zweite oder dritte Frau zu nehmen, und die erste besuchte er auch nicht mehr allzu oft des Nachts, weil sie ihn nicht mehr reizte. Sie war nicht so exotisch, so fremd und bezaubernd.
Der Bwana beugte sich zu seiner Frau und küsste sie auf die Stirn. Sie schloss einen winzigen Moment lang die Augen.
«Kinyua möchte lesen lernen.» Bwana Winston setzte sich in den zweiten Korbstuhl. «Ich habe keine Zeit, und unser Missionar kommt wohl nicht wieder. Kannst du es ihm beibringen?»
Sie runzelte die Stirn und schaute von ihrem Mann zu Kinyua. «Ich weiß nicht …»
Er trat vor. «Ich bin ein eifriger Schüler. Das Jagen habe ich ebenso schnell gelernt wie das Ausweiden der Tiere. Ich bin ein guter Rinderzüchter, und man schätzt mich hoch, weil ich beharrlich bin.»
«Er hat sich eine Fibel gekauft.» Der Bwana legte das Buch auf den Tisch.
Die Memsahib nahm das Buch und blätterte darin.
«Ja, aber warum?», fragte sie.
«Ich will verstehen. Ich will die Geschichten lesen können, die die Weißen sich nicht erzählen.»
Ich will so sein, wie du es bist, dachte er. Aber das auszusprechen wagte er nicht. Er wusste, beide würden ihn missverstehen, und dann wäre seine wunderbare Chance dahin.
Sie als seine Lehrerin – das war mehr, als er erträumt hatte. Tag für Tag neben ihr zu sitzen und ihrer Stimme zu lauschen, die wie die Honigfeigen schmeckte, die er sich bei seinen Reisen nach Nairobi immer kaufte …
«Das ist ein guter Grund.» Sie nickte zufrieden. «Ich unterrichte dich gerne, Kinyua. Komm morgen früh zur selben Zeit wieder her.»
«Danke, Memsahib.»
Er war beschwingt. Sie unterrichtet mich!, sang es in seinem Herzen, als er zurück ins Dorf lief. Schon bald würde er verstehen, was es war, das diese Menschen sich nicht zu erzählen wagten.
Und dann würde er hoffentlich begreifen, warum sie so waren, wie sie waren.
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18 . Kapitel
Den Jahreswechsel begingen sie auch dieses Mal in Nairobi. Sie brachen zwei Tage nach Weihnachten auf und fuhren in ihrem neuen Automobil über die neu angelegte Straße, mit einem Zwischenstopp bei Freunden.
Während der Fahrt saß Chris auf Audreys Schoß. Er wurde ihr langsam zu schwer, zumal ihr der dicke Bauch im Weg war. Doch jeder ihrer Versuche, den Jungen
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