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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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hin. Aber Pessina war ein methodischer Arbeiter und erlaubte sich nicht einmal in Gedanken eine vorzeitige Schlussfolgerung. Erst musste er unter dem Mikroskop prüfen, ob die Lunge Spuren von Kieselalgen aufwies.
    In gespanntem Schweigen, das nur hin und wieder ein Murmeln unterbrach, arbeitete der Pathologe weiter. Manchmal trat er zurück und setzte sich zum Nachdenken auf einen Stuhl neben den Toten. Er saß so reglos, dass das einzige Anzeichen von Leben im Obduktionssaal des rechtsmedizinischen Instituts die lateinischen Worte des Stabat Mater waren.
     
    Der Regen prasselte so ungestüm herab, dass die Grenze zwischen See und Himmel verschwamm. Unter ihm lag das graue Wasser, über ihm der bleierne Himmel, und in der Ferne sah er die rauchigen Silhouetten der Berge, die körperlos wirkten wie Nebelschwaden.
    Was brachte Tommi dazu, bei diesem Wetter auf den Damm zu steigen und ins Wasser zu starren? Was trieb ihn hierher zwischen die Felsen am Seeufer? Mit zugeschnürter Kehle war er am Morgen aufgewacht und wusste nicht, weshalb. Er wollte schreien, mit den Fäusten gegen die Wand trommeln, sich die Knöchel blutig schlagen.
    Und er wollte in das Zimmer mit den Fotos hinaufgehen, aber etwas hielt ihn zurück. Wovor hatte er Angst? Ohne Kopfbedeckung oder Schirm, nur in seiner roten Jacke stand er da, blickte auf den See von Malvaglia hinaus und versuchte nachzudenken. Francesca. Sie verstand ihn, und sie würde Elia Contini erklären, dass die Zeit ein Trugbild ist. Dass sich das Böse ausmerzen lässt. Schön war Francesca mit ihren hellen Augen, in denen sich das Licht spiegelte. Sie verstand ihn.
    An diesem Tag musste er die Verträge für einen Civic Hybrid und einen fünftürigen Jazz vorbereiten. Ferner waren die Abrechnungen vom Januar zu überprüfen, obwohl er den Eindruck hatte, dass Signor Barenco derzeit andere Dinge im Kopf hatte. Aber so wenig, wie ihn dieses Autohaus noch interessierte, konnte Barenco von ihm aus genauso gut zusperren und in seinen Schulden ertrinken …
    Tommi erwachte jäh aus seinen Gedanken.
    Es stand ihm wieder in aller Deutlichkeit vor Augen. Es war passiert, es war passiert! Wie hatte er es nur vergessen können? Im Bruchteil einer Sekunde kehrte die Szene zurück, alles fiel ihm wieder ein. Er hatte gewartet, bis ihm der Bürgermeister den Rücken zukehrte, und ihm dann einen Hieb in den Nacken versetzt. Wie ein Sack war Pellanda vornübergefallen. Und dann hatte ihn Tommi zum Wasser geschleppt und ertränkt.
     
    »Wer hätte denn einen Grund gehabt, den Bürgermeister Pellanda umzubringen?«, fragte der Staatsanwalt.
    »Das weiß ich doch nicht«, sagte Doktor Pessina mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es sich um Mord handelt.«
    Attilio Rodoni wollte jede Phase der Ermittlung von Anfang an mitverfolgen. Er hatte Vertrauen zu Commissario De Marchi, aber er wusste auch, dass die Sache kompliziert wurde, sobald die Politik sich einmischte. Pellanda war ehemaliger Abgeordneter im Großen Rat, Bürgermeister von Malvaglia und im ganzen Kanton bekannt. Unter anderem war er ein Freisinniger. Somit ein Parteifreund von Rodoni.
    »Sind Sie da absolut sicher?«, fragte er den Pathologen.
    Pessina rückte seine Brille zurecht. Das Adverb »absolut« passte ihm nicht.
    »Sagen wir so: Die Indizien deuten auf Mord hin«, antwortete er. »Es liegt kein Hinweis auf einen Infarkt vor.«
    »Ja, aber …«
    Staatsanwalt Rodoni hatte ein breites Gesicht mit einer kleinen, gedrungenen Nase, die er mit Daumen und Zeigefinger zusammenzudrücken pflegte, wenn er nicht weiterwusste. So auch jetzt. Er ließ die Nase wieder los und wandte sich an De Marchi: »Was halten Sie davon, Herr Kommissär?«
    Die Unterredung fand im Büro des Staatsanwalts in Bellinzona statt, die Teilnehmer waren Rodoni, De Marchi, Doktor Pessina, Ferrari von der Kriminaltechnik und Luigi Tettamanti, der Chef der Kriminalpolizei. Im Tessin erfolgt die Ernennung der Staatsanwälte mittels Rotation; und manchmal gelangen die heikelsten Fälle leider in die Hände eines Neulings. Diesmal war De Marchi froh, mit einem zähen Knochen wie Rodoni zusammenzuarbeiten. Mit einem Blick zu Doktor Pessina fragte er: »Also Sie sind sicher, dass Pellanda ertrunken ist, ja?«
    Pessina war sicher: die geblähte Lunge, der Schaumpilz vor dem Mund, die Erde unter den Fingernägeln - ganz zu schweigen von der mikroskopischen Untersuchung einer Gewebeprobe, die den eindeutigen Nachweis körperfremder

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