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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Partikel geliefert hatte. Tod durch Ertrinken, es bestand kein Zweifel.
    »Und er war erst ein paar Stunden tot, richtig?«, fragte Ferrari.
    Pessina blätterte in seinen Unterlagen.
    »Ja«, antwortete er und deutete auf eine Grafik. »Sehen Sie? Wenn wir die Körpertemperatur berücksichtigen - natürlich, es ist Winter und folglich … Mm, ja, rektal gemessen fünfundzwanzig Grad …« Er zog ein zweites Blatt heran, deutete auf eine zweite Grafik und blickte auf. »Nach unserem Mittelwert ist er nicht lang nach Tagesanbruch gestorben und wurde zwei Stunden später von einem gewissen …«
    »Signor Baggi«, sprang ihm Rodoni bei, der die Berichte Wort für Wort auswendig wusste.
    »Ja, aber wenn Sie gestatten, möchte ich gern zum Punkt kommen«, schaltete sich der Chef der Kripo ein. »Kann es nicht sein, dass er ohnmächtig wurde, sich im Fallen den Kopf aufschlug und dann ertrank?«
    Tettamanti war ein Riese. Von Jugend an daran gewöhnt, die Welt von oben zu betrachten, trug er seine zwei Meter fünf Körperhöhe mit schicksalsergebener Geduld.
    »Tja«, antwortete Pessina, »die Verletzung im Nacken kann er sich schwerlich im Fallen zugezogen haben …«
    »Er lag bäuchlings auf dem Boden, das Gesicht im Wasser«, sagte Ferrari. »Kann natürlich sein, dass ihn jemand bewegt hat.«
    »Hm.« De Marchi schüttelte den Kopf. »Nehmen wir an, er wurde ermordet. Wer hätte ein Motiv?«
    Schweigen.
    »Niemand überfällt Leute frühmorgens auf einem Waldweg oberhalb von Malvaglia«, fuhr der Kommissär fort. »Zumal nicht anzunehmen war, dass Pellanda Geld bei sich hatte: Schließlich führte er nur seinen Hund aus. Nein, ich würde mich eher fragen, warum der Hund mit diesem Strick an einen Baum gebunden war.«
    »Vielleicht kannte der Mörder den Hund«, sagte Tettamanti.
    De Marchi nickte. »Ja, vielleicht.«
    »Und wenn es ein Irrer war?«, fragte Rodoni. »Einer, der im Zustand der geistigen Umnachtung gemordet hat? Seine Wut am Erstbesten ausgelassen hat, der seines Weges kam?«
    »Oder einer, der eine Wut auf den Bürgermeister hatte«, bemerkte De Marchi.
    »Glaub ich nicht.« Rodoni fand die Idee der Umnachtung besser. »Pellanda mag politische Gegner gehabt haben, aber bitte, meine Herren - hier haben wir es mit einem Tobsüchtigen zu tun!«
    »Einem Tobsüchtigen?«, fragte Tettamanti skeptisch.
    »Einem, der tötet um des Tötens willen«, erklärte Rodoni.
    »Ich glaube, wir sollten mit den Spekulationen lieber vorsichtig sein.« Tettamantis Miene war finster. »Tatsache ist, dass wir überhaupt nichts in der Hand haben.«
    »Auf jeden Fall«, sagte Rodoni und presste seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger, »stehen wir schlecht da, auch wenn es ein Irrer ist. Wir haben doch keinen einzigen Anhaltspunkt. Oder?«
    Ferrari fühlte sich auf den Plan gerufen. »Nein, in der Tat weist der Tatort keine verwertbaren Spuren auf - abgesehen von dem Strick, mit dem der Hund festgebunden war. Aber es ist ein Strick wie viele andere.«
    »Also?«, fragte Rodoni.
    »Also machen wir es wie immer«, antwortete De Marchi. »Wir befragen die Leute, die Pellanda gekannt haben, und finden heraus, ob jemand was gegen ihn hatte.«
    »Und wenn wir nichts herausfinden?«, fragte Rodoni.
    »Dann können wir immer noch nach einem Tobsüchtigen fahnden.«
     
    Das Tessin war einmal ein armes, verworrenes Land.
    Schweizerisch und stolz darauf - wenigstens meistens -, schleppte sich die Republik Tessin mehr schlecht als recht dahin: Die Jugend wanderte ab, die Politiker schlugen sich gegenseitig die Köpfe ein, und kaum ein Deutschschweizer wagte sich sehr weit in dieses wilde Land vor. Dann kam der Tourismus, und hinter ihm schwänzelte das Wirtschaftswachstum einher. Die Wildbäche wurden zur Stromgewinnung gezähmt, die abgelegensten Dörfer zu Ferienorten getrimmt. Hier und dort murrte zwar jemand, aber alles in allem war es doch besser, Touristen zu bewirten als Hungers zu sterben.
    Und der elektrische Strom? Zwischen 1950 und 1960 war die Gier der großen Deutschschweizer Industrieregionen nach Energie unersättlich, und die Alpenkantone mit ihren vielen Flüssen meldeten sich zur Stelle. Sie verbauten den Ticino, die Maggia, den Brenno. Es entstanden die Betongebirge der großen Talsperren; enge alte Straßen, Dörfer, Höfe, ein paar handtuchgroße Grundstücke verschwanden unter Stauseen. Moderne Straßen wurden geplant und gebaut, man sprach von Fortschritt.
    Innerhalb weniger Jahre flossen Millionen

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