Am Grund des Sees
Vater umgebracht und seine Leiche in diese Truhe gelegt hatte. - War es denn sein Vater? Natürlich, wer denn sonst - auch so entstellt, wie er war, hatte er ihn doch eindeutig erkannt. Allerdings hatte er ihn zwanzig Jahre nicht gesehen …
Contini, rief er sich zur Ordnung, sieh der Wahrheit ins Auge.
Ein Kälteschauder überlief ihn. Er legte eine Georges-Moustaki-Kassette ein, um sich der Illusion mediterraner Sonne hinzugeben, aber es gelang nicht recht.
Chico Malfanti begrüßte ihn höflich, seine Miene aber zeigte ein gewisses Befremden, und Contini wurde sich bewusst, dass er sich seit Tagen nicht rasiert hatte und insgesamt nicht aussah wie das blühende Leben. Aber für Erklärungen war keine Zeit, denn die Tür zum Büro des Kanzleichefs öffnete sich weit, und Calgari sagte: »Ah, Contini. Bitte, kommen Sie herein.«
Contini setzte sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch und wartete, bis Calgari ebenfalls Platz genommen hatte, dann sagte er: »Ich habe meinen Vater gefunden.«
Calgari riss die Augen auf. Neben Verblüffung drückte seine Miene dasselbe Befremden aus, das Contini bei Chico Malfanti wahrgenommen hatte.
»Sie scheinen mir ein bisschen mitgenommen, Contini. Geht’s Ihnen wirklich gut?«
»Ich sagte, ich habe meinen Vater gefunden.«
Rechtsanwalt Calgari verkniff sich einen Seufzer und sagte: »Wo denn? Erzählen Sie.«
Contini berichtete von dem Tauchgang und den Leichen im gefluteten Keller, ohne dass ihn Calgari ein einziges Mal unterbrach. In seinem Blick stand Skepsis.
»Glauben Sie mir nicht?«, fragte Contini schließlich.
»Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht glaube«, präzisierte Calgari. »Aber ich weiß nicht, was ich in der Sache tun soll. Wieso erzählen Sie das mir ?«
»Weil ich alles über die Staudammgegner wissen will, die damaligen und die heutigen. Während ich unten war, hat jemand in meinen Sachen gewühlt, und ich bin sicher, das war der Mörder. Das ist einer, der mich kennt, einer aus Malvaglia.«
Diesmal verkniff sich Calgari den Seufzer nicht.
»Hören Sie, Contini, darüber haben wir doch schon gesprochen. Es gibt Regeln, und daran müssen wir uns halten … Gehen Sie nur dran, kein Problem!«
Das Läuten des Mobiltelefons hatte Contini zusammenfahren lassen. Normalerweise stellte er den Apparat auf Vibration um, wenn er Termine hatte, aber diesmal hatte er es vergessen.
»Verzeihung, bitte.« Er hielt sich das Telefon ans Ohr. »Contini.«
Niemand meldete sich.
»Hallo, wer ist da?«
Nach mehreren Sekunden hörte er eine männliche Stimme. Murmelnd, aber deutlich jede Silbe betonend, sagte sie ein Wort: »Desolina.«
Contini erkannte das heisere Flüstern: Das war dieselbe Person, die ihn während der Fasnacht, kurz vor Vassallis Tod angerufen hatte.
»Wer ist da?«, fragte er. »Wer spricht?«
Aber die Stimme wiederholte nur noch einmal »Desolina«, dann brach die Verbindung ab.
17
Es riecht nach Schnee
Wie nur hatte sich Rechtsanwalt Calgari herumkriegen lassen? Schwer zu sagen. Vielleicht hatte ihn die Abenteuerlust infiziert, die von Zeit zu Zeit seinen jungen Mitarbeiter befiel: Chico Malfanti konnte sich nur wundern, als er Contini und Calgari gemeinsam und eilig die Kanzlei verlassen sah.
»Malfanti, ich bin eine Stunde weg!«, rief sein Chef über die Schulter.
»Ja, ähm, und wo …«
»Wiedersehen!«
Vielleicht las der Anwalt in Continis Blick, dass die Sache ernst war. Vielleicht hatte der Detektiv einen so zerrütteten Eindruck auf ihn gemacht, dass ihn Calgari nicht allein gehen lassen wollte. Oder vielleicht war etwas geschehen, das er, der Chef, sich lieber mit eigenen Augen ansah.
Contini hatte gemerkt, dass Calgari nicht recht wusste, ob er an die Entdeckung zweier Leichen im Keller glauben sollte. Deshalb war er froh, als der Anwalt sich bereit erklärte, ihn nach Villa Luganese zu begleiten. Um den Kopf aus der Schlinge zu bekommen, musste er so schnell wie möglich seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, und ein Zeuge konnte ihm da nur gelegen kommen. Nach dem zweiten mysteriösen Anruf fragte er sich, ob man die Polizei benachrichtigen sollte. Allerdings konnte es ein falscher Alarm sein. Ein Anwalt als Zeuge musste ausreichen.
Mit Calgaris Cherokee-Jeep brachen sie von Bellinzona auf.
Auf dem Weg nach Villa ließ sich der Anwalt noch einmal in allen Details von der Entdeckung der Leichen berichten und fragte nach dem Sinn der Nachricht auf dem Briefumschlag in Continis Rucksack.
»›Auf wen
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