Am Grund des Sees
muss Herr A als Erstes schießen?‹«, murmelte er. »Was soll das bedeuten?«
»Keine Ahnung.« Contini starrte zum Fenster hinaus. »Ich versteh das alles nicht.«
In Villa angelangt, parkten sie vor Adele Fontanas Haus. Es war schneidend kalt, und Contini meinte vereinzelte Schneeflocken zu sehen. Niemand reagierte auf ihr Läuten. Doch die Tür war unverschlossen. Sie schoben sie auf und riefen. Keine Antwort. Das Haus schien leer.
»Und jetzt?«, fragte Calgari.
»Wir gehen hinein.«
»In ein fremdes Haus! Kommt nicht infrage!«
»Wir müssen uns vergewissern, ob Desolina wohlauf ist.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich Sie herbegleitet habe.« Calgari trat einen Schritt zurück. »Wenn Sie Hausfriedensbruch begehen wollen und sich einbilden, ein Anwalt an Ihrer Seite wird Ihnen helfen …«
»Verstehen Sie denn nicht? Desolina kann wirklich in Gefahr sein!«
Sekundenlang standen die zwei Männer einander gegenüber. Dann sagte Calgari: »Kehren wir um.«
»Die Tür ist offen«, gab Contini zurück. »Das lässt nichts Gutes vermuten. Ich gehe hinein.«
Calgari wollte etwas erwidern, zuckte aber die Achseln und kehrte zum Auto zurück. Ehe er den Wagenschlag öffnete, sagte er: »Ich warte fünf Minuten, dann fahre ich nach Bellinzona zurück.«
»Ich bin gleich wieder da!«, rief Contini und verschwand im Haus. Die Tür ließ er angelehnt.
»Desolina!«, rief er. Es kam noch immer keine Antwort.
Auf der Treppe rief er erneut. Bei einem Blick aus dem Fenster sah er Calgari im Auto sitzen, die Hände auf dem Steuer. Rasch ging er weiter, entschlossen, nach Desolinas Zimmer zu suchen.
In dem Moment, als er in den Flur einbiegen wollte, hörte er einen Schuss.
Wie neulich während der Fasnacht, ging es ihm durch den Kopf. Auch diesmal konnte er das Geräusch eindeutig zuordnen, und der Nachhall ließ ihn denken: Das war hier ganz in der Nähe!
Eine Sekunde stand er da wie angewurzelt. Es war ein Augenblick der Erkenntnis: Er hat auf mich gewartet, begriff er, er hat es drauf angelegt. Jetzt wird gleich Calgari aufkreuzen, während der Mörder sich ungesehen aus dem Staub macht … Er rüttelte sich auf. Ohne auf den Anwalt zu warten, stürzte er los, riss sämtliche Zimmertüren auf, warf einen raschen Blick hinein.
Er fand sie sehr schnell.
Desolina lag, den Rock hochgestreift, mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden. Ihre weißen Haare standen wirr ab, um ihren Kopf hatte sich auf dem Teppich ein dunkler Fleck gebildet, wie ein Heiligenschein.
Das Fenster stand offen, Kälte drang herein. Die oberste Schublade der Kommode war herausgerissen und lag neben dem Bett auf dem Boden, Taschentücher und Medikamente waren auf dem Teppich verstreut, ebenso diverse Kleidungsstücke; eine Schranktür stand offen. Die Schreibtischlade war herausgezogen und durchwühlt worden, auf der Tischplatte lagen Papiere, Stifte, Fotos durcheinander, als wäre ein Windstoß hineingefahren.
Unter Desolinas Hand sah Contini ein Papier hervorspitzen; vielleicht hatte sie es gehalten, bevor sie starb. Mit zwei behandschuhten Fingern, um keine Abdrücke zu hinterlassen, drehte er es um.
Und seine Augen weiteten sich. Das war er selbst! Das war ein Jugendfoto von ihm!
Aber warum?
Es war kein normaler Abzug, sondern ein Computerausdruck. Im Vordergrund ein junger Contini mit Strohhut.
Der Detektiv ließ das Bild fallen und stand auf. Vom Fußboden her starrte ihn sein Gesicht an. Und es schien ihn ebenfalls anzuklagen.
Inzwischen fiel es ihm selber schwer, sich für unschuldig zu halten.
»Contini?«
Das war Calgari. Contini ging zur Tür und sah den Anwalt die Treppe heraufkommen.
»Hier oben«, sagte er. »Ich habe Desolina gefunden.«
»Was war das, ein Schuss?«
Contini gab keine Antwort, sondern ließ Calgari sich mit eigenen Augen überzeugen.
»Um Gottes willen …« Calgari schluckte schwer; dann sah er ihn an. »Was ist hier passiert?«
Der Detektiv gab keine Antwort: Er stand am Fenster und sah unten auf der Straße einen Mann neben einem schwarzen Auto stehen, der zu ihm heraufblickte und grüßend die Hand hob.
»Aber das gibt’s doch nicht …«, murmelte Contini.
Calgari trat zu ihm. »Was?«, fragte er.
»Der Mann dort unten, der jetzt in den schwarzen Honda eingestiegen ist!«, rief Contini aufgeregt. »Das ist er … der Mörder!«
»Wie bitte?«
»Der Kerl da unten - ich hab ihn nicht genau gesehen, aber er kommt mir bekannt vor … Da, jetzt fährt er weg.«
Contini rannte
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