Am Haken - Ein maximalistischer Roman ueber das Leben die Liebe und den grossen Hecht
machen. Sich sonnen, wenn eswarm ist, und versuchen, die Wärme zu halten, wenn es kalt ist. Er würde versuchen, ein möglichst angenehmes Leben zu leben. Und dann hätte er keine Menschensprache. Nur Laute.
Würde er es schaffen, ein Glas in der Hand zu halten?
Würden ihm Eier und Schinken schmecken?
Mitten in meinen Spekulationen taucht Jerry auf. Er scheint ebenfalls auffallend morgenwach zu sein – wirkt aber noch etwas mundfaul.
»Morgen«, sagt er, legt sich zwei Scheiben Knäckebrot auf einen Teller und zwei dünne Käsescheiben darauf. Nicht gerade ein Frühstück für einen Wolfsjungen. Aber Jerry gehört in eine andere Gewichtsklasse.
»Hmf«, antworte ich in Wolfsjungen-Sprache.
»Ich habe nachgedacht«, setzt er an. »Wir haben ein Problem.« Er macht eine unheilschwangere Pause. »Das bringt uns um, Bud. Diese Kreativität bringt uns um. Sie wird uns noch das Leben kosten.«
Ich frage mich, wovon er wohl redet, bringe aber nur ein »Mmm?« heraus.
»Ich rede von dem Anstreicherjob«, erklärt er und sieht mich mit ehrlichem Bedauern an. »Du hättest es nie zulassen dürfen, dass ich deinen Eltern anbiete, wir könnten diesen Job übernehmen. Manchmal bist du so … Bud.« Er breitet resigniert die Arme aus. »Du musst auf mich aufpassen. Ich springe in alle Richtungen, & jetzt fürchte ich, dass ich zu weit gesprungen bin. Dieses Haus liegt hart an der Grenze dessen, was wir schaffen können.« Er steht auf, schenkt sich ein Glas Milch ein und betrachtet nachdenklich die weißeFlüssigkeit. »Aber ich glaube, wenn wir dieser Aufgabe noch zwei Tage opfern, dann können wir es vielleicht doch schaffen & dann können wir es die letzten Tage, die ich hier bin, ruhig angehen lassen. Wenn wir um vier oder fünf Uhr aufstehen, dann können wir es hinkriegen. Wir quälen uns ein bisschen, aber dann können wir hinterher entspannen. Ein Versprechen ist trotz allem ein Versprechen & wir müssen einfach versuchen, es zu halten. Komm!«
Damit ist das Frühstück zu Ende und wir stehen im nächsten Moment vor der schrecklichen Nordwand. Hier fehlen noch drei Meter, bis die Ecke erreicht ist.
Als meine Eltern um halb acht aufstehen, ist die Nordwand fertig.
Mein Vater kommt zum Inspizieren und scheint erleichtert zu sein. »Ich muss mal zum Haus vom Schwiegervater gehen und nachsehen, ob es noch steht«, erklärt er.
Ich schaue ihm hinterher. Bin mir zu 100 % sicher, dass das mit einer Katastrophe enden wird. Aber ich kann ihn nicht aufhalten. Stattdessen gebe ich mir alle Mühe, nicht so nervös zu erscheinen.
Nach dreißig Sekunden hören wir einen Laut, der an ein Bellen erinnert. Und dann einen Schrei.
2. DIE GROSSE SELMA
»Wir müssen die Polizei anrufen«, verkündet mein Vater nervös. Er kommt zu unserem Haus zurückgelaufen. »Jemand hat im Pavillon vom Schwiegervatereine Party gefeiert. Möbel sind kaputt, es ist alles verdreckt und überall liegen die Scherben von Bierflaschen herum.« Er verschwindet im Haus.
Ich umklammere die Farbrolle. Streiche weiter die Wand an. Jerry dagegen bleibt stehen und sieht mich verwundert an. Ich kann nur immer wieder denken, dass ich doch gleich hätte aufräumen und sauber machen sollen. Was für ein Idiot kann man nur sein? Einen Tatort zu verlassen – voller Spuren. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 89 %, dass man entdeckt oder überführt wird.
»Hnn?«, frage ich in Wolfsjungen-Sprache.
»Bud«, grinst Jerry. »Ich bin schwer beeindruckt. Was für Ideen du hast … jede Nacht im Pavillon hocken & den Mond antrinken … das ist eigentlich ein echt guter Stunt.«
»WAS?«, platzt es aus mir heraus, wobei ich vergesse, dass ich eigentlich der Wolfsjunge bin.
»Ich weiß alles«, sagt er gespielt pathetisch und tippt sich an die Stirn. »& ich sehe alles.« Er zeigt auf seine Augen.
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich drehe mich zur Wand um, ganz rot im Gesicht. Habe das Gefühl, als bliebe die Farbrolle in der weißen, zähen Farbe kleben. Als hätte mein Arm keinerlei Kräfte mehr. Als wäre mein Körper aus Leim gemacht, der langsam eintrocknet.
Kann ich mich auf Jerry verlassen?
Was ist, wenn er alles ausplaudert, was er weiß? Etwa beim Essen? Mittags oder abends? Wenn wir mit jemandem reden, den wir kennen? Ohne sich daranzu erinnern, dass es ein Geheimnis ist? Er ist schließlich die größte Plaudertasche, die ich kenne.
Ich hocke mich ins Gras, weil mir die Knie ihren Dienst versagen. Versuche es zu
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