Am Helllichten Tag
rausgefunden?« Ramakers steht in der Tür und mustert sie mit zusammengezogenen Brauen, wie immer, wenn er eine positive Antwort erwartet.
»Nicht viel«, muss Julia zugeben. »Dieser Rachid streitet alles ab.«
»Hmmm.« Ramakers lässt den Blick durch den Raum schwei fen. »Wir haben also nicht viel gegen Amrani in der Hand. Ein DNA -Nachweis allein reicht in diesem Fall für eine Verurteilung nicht aus. Wir müssen weitersuchen, bis handfeste Beweise vorliegen. Immerhin können wir ihn fürs Erste festhalten und eine Haussuchung vornehmen. Wie ich gelesen habe, befand sich nur an Schavenmakers T-Shirt Speichel, nicht aber in den Wunden. Der Streit inklusive Anspucken muss also vor dem Mord stattgefunden haben. Somit hatte Amrani durchaus ein Motiv.« Er macht eine säuerliche Miene. »Wenn sich innerhalb von drei Tagen nichts ergibt, müssen wir den Burschen laufen lassen.«
16
Als kurz vor Feierabend Julias Telefon klingelt, ist sie gerade dabei, Papiere zu ordnen. Am liebsten würde sie sich jeden Morgen an einen picobello aufgeräumten Schreibtisch setzen, aber das ist nur selten drin; meist türmen sich dort die Akten, Protokolle und Notizen von Kollegen.
»Hallo, Julia, hast du heute Abend schon was vor?« Melanie, Sjoerds Frau, ist am Apparat.
Julia hatte gehofft, es wäre Taco, der sich für sein Benehmen entschuldigen will. Seit sie zusammen essen waren, hat er sich nicht mehr gemeldet – kein Anruf, keine SMS , nichts. Sie ist ziemlich sauer deswegen, aber da sie sich nichts vorzuwerfen hat, sieht sie keinen Grund, als Erste einzulenken.
»Ach, du bist’s. Ob ich was vorhabe? Ich will endlich den Abwasch in Angriff nehmen und muss die Wohnung gründlich saugen, weil mein Kater ständig haart. Das heißt, falls ich überhaupt dazukomme, denn in meinem Kühlschrank herrscht bis auf ein paar abgelaufene Joghurts gähnende Leere.«
Melanie lacht. »Für das letztgenannte Problem wüsste ich eine Lösung.«
»Dann schieß los.«
»Sjoerds Eltern wollten eigentlich zum Essen kommen, aber nun hat sich sein Vater eine Darmgrippe eingefangen und sie haben kurzfristig abgesagt. Also sitze ich mit meinem Essen da. Und weil ich weiß, dass du gern Nudelauflauf isst, zähle ich fest auf deine Unterstützung.«
Unwillkürlich muss Julia lächeln. Es ist typisch für Melanie, eine Einladung so zu formulieren, dass man das Gefühl hat, sie im Stich zu lassen, wenn man ablehnt. Und dass Julia ablehnen würde, liegt auf der Hand, weil sie sich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht hat.
»Hast du denn so viel vorbereitet?«, fragt sie, um Zeit zu schinden.
»Der Auflauf ist für vier Personen. Wär doch schade, wenn ich die Hälfte wegwerfen müsste.«
Julia fühlt sich ein wenig in die Enge getrieben. »Ich weiß nicht recht«, sagt sie langsam. »Der Tag war ziemlich anstrengend. Ich bin müde.«
»Gerade dann solltest du kommen.« Melanie lässt sich nicht so leicht abwimmeln. »Du brauchst nichts zu tun, nur im Garten zu sitzen. Nun gib dir schon einen Ruck, Julia! Gemeinsam essen ist doch viel gemütlicher, als wenn du für dich allein was kochst.«
Gemütlicher schon, denkt Julia, aber auch schmerzhaft. Das Zusammensein mit Melanie und Sjoerd wird ihr so zusetzen, dass sie garantiert die halbe Nacht wach liegt.
Julia sucht gerade nach Worten, um höflich, aber bestimmt abzulehnen, da kommt Melanie ihr zuvor:
»Fein, dann also bis in einer Stunde!«, sagt sie und legt auf.
Zu Hause versucht Julia, den Knick aus ihrem schulterlangen Haar zu bürsten. Damit es ihr bei der Arbeit nicht ständig ins Gesicht fällt, trägt sie tagsüber einen Pferdeschwanz.
Als der Knick nicht verschwindet, macht sie das Haar nass und föhnt es, bis es in weichen Wellen ihr Gesicht umrahmt. Anschließend trägt sie etwas Make-up auf, damit sie nicht allzu blass wirkt.
Auf dem Weg in die Küche streichelt sie Morf, der sich maunzend an ihre Beine schmiegt, bevor er sich durch sein Katzentürchen in den Garten verdrückt.
Julia holt eine Flasche Rosé aus dem Kühlschrank, nimmt ihre Tasche und verlässt das Haus.
Kurz darauf ist sie mit dem Fahrrad nach Hammerveld unterwegs, wo Sjoerd und Melanie wohnen. Hammerveld gehört zu den besseren Vierteln Roermonds. Dass sich die beiden dort ein hübsches Einfamilienhaus kaufen konnten, ist wohl Melanies Erbe zu verdanken. Auch sie hat schon sehr früh ihre Eltern verloren. Ihr braucht Julia nicht groß zu erklären, dass solch ein Verlust selbst noch nach langer Zeit
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