Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
ausgelöscht hatte. Die Welt kam zu Nell: Von Seefahrern und Händlern, den Prostituierten und den Dieben erfuhr sie von weit entfernten Orten. Nell mit ihrem Fischstand war eine Legende.
»Ich glaube, mein Vater hat dringend einen wohlhabenden Schwiegersohn gebraucht«, schloss Rhia. »Unsere Kundschaft nimmt von Jahr zu Jahr ab, aber natürlich müssen wir mehr verlangen als die Fabriken. Den Leuten scheint es egal zu sein, dass handgewebtes Leinen eine viel bessere Qualität hat. Hauptsache, es kostet weniger.« Aus irgendeinem Grund brachte sie das wieder zum Weinen. Normalerweise machte sie in Gegenwart von anderen kein solches Theater, denn sie wurde lieber für unverfroren als für hysterisch gehalten.
Nell legte den Kopf schief und seufzte. »Sch, sch. Diese Maschinen sind noch das Ende aller ehrlichen Arbeit. Kopf hoch, mein Schäfchen. Ziegel und Stoff sind leicht gemacht, aber Kühnheit nicht. Und ohne die ist eine Lady so langweilig wie ein toter Fisch. Und eine Lady wie du, die weiß, wie der Laden läuft, kann sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen – egal, ob sie einen Mann hat oder nicht. Obwohl’s deinem Dad wahrscheinlich nicht recht wäre. So, und jetzt lauf schnell heim, bevor dich deine Mutter vermisst. Die Frau hat so schon genug Sorgen. Aber zuerst isst du den Fisch auf!«
Das tat Rhia, dann umarmte sie Nell und verließ den Hafenmarkt.
Sie wählte den kürzesten Weg nach Hause, hinter den Mietshäusern vorbei, wo ihr eine Horde von zerlumpten Gassenkindern nachlief. Irgendwann blieb sie stehen und sagte zu ihnen, es sei ganz schön mutig, sich nach der Hexennacht so früh schon aus dem Haus zu trauen. »Ich komme gerade von einer Hexenversammlung«, fügte sie hinzu, »und wenn ihr mich nicht gleich in Ruhe lasst, dann verwandle ich euch alle in Käfer.« Daraufhin rannten sie lachend und kreischend davon.
Nach den Mietshäusern kam das Viertel der Färber, ihr liebster Stadtteil. Überall in den Gassen waren Tuchballen zum Trocknen aufgehängt: safrangelb und ringelblumenfarben, rubinrot, indigoblau und smaragdgrün. Als Kind waren Rhia diese Straßen wie ein Zauberwald vorgekommen. Hier schenkte niemand ihrem roten Mantel besondere Beachtung. Einst hatte sie sich vorgestellt, jeder Tag wäre wie das Stück einer Decke aus allen Farben und Materialien, manche leuchtend und fein, andere blass und abgetragen. Der heutige Tag? Taubenblau, und aus Seide. Ein melancholischer Stoff, der flüsterte und raschelte und sich gern geheimnisvoll gab. Wer konnte schon sagen, was er prophezeite.
3
G ARN
Selbst am Ende eines Novembertages war die breite George Street noch sonnendurchflutet und belebt. Die meisten Läden waren inzwischen verriegelt, aber gestreifte Markisen blieben hier zu jeder Tageszeit ausgefahren, an jedem Tag des Jahres. In Sydney stellte kein Tuchhändler, Zuckerbäcker oder Buchhändler seine Waren im Schaufenster aus. Stoff verblasste, Lebensmittel verdarben und Buchseiten wurden brüchig und gelb.
Michael Kelly zog seine Hutkrempe tiefer ins Gesicht, um sich vor den intensiven Sonnenstrahlen zu schützen. Mittlerweile hatte er ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Ort entwickelt, dieser entlegenen Küste, die sowohl seine Heimat als auch sein Gefängnis war. Es wäre dumm, keine Achtung vor dem Unsichtbaren in Australien zu haben: vor den Helden der Ahnen und den geweihten Orten. Mangelnder Respekt vor der uralten Wildheit des Landes hatte so manchen Menschen sein wertloses Leben gekostet. Als ihm Jarrah von der Altjeringa erzählt hatte, der Religion (wenn man sie so nennen konnte) der Ureinwohner Australiens, war Michael nicht überrascht gewesen. Er hatte sie bereits gespürt. Dieser Ort war voller Geister, manche davon ganz frisch, andere dagegen schwirrten anscheinend schon seit Anbeginn der Welt hier herum. Darin, und auch nur darin, glichen sich Australien und Irland: Die Götter waren untrennbar mit der Landschaft verbunden. Michael hatte Jarrah – den einzigen Eingeborenen, den er kannte – jahrelang beobachtet, ehe er eine Ahnung davon bekam.
Einst hatte sich sein Inneres jedes Mal, wenn er den Horizont über dem Wasser gesehen hatte, vor Heimweh zusammengezogen. Doch der silberne Schiefer von Greystones und das wehmütige Violett der Wicklow Hills waren inzwischen so weit entfernt, in seiner Erinnerung und in Meilen gemessen, dass er kaum noch an ihre Existenz glaubte. Hier trafen die Strände auf flachsblonde Klippen und waren bedeckt von blassem
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