Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Gebrauchsgegenstände wie in jeder Stadt der westlichen Welt, und doch lag sie so weit im Osten, dass sie nicht als Teil dieser Welt betrachtet wurde. Wer würde schon glauben, dass er jeden Tag an mehr Kirchen und Banken vorbeikam, als sich auf einer ähnlichen Strecke in London fanden; dass er in seiner Dachkammer neben einem Mietstall über einem Professor für Klavier und Harfe wohnte; und dass man französische Körbe und ausgefallenes Gebäck kaufen konnte. Er hatte das von der Kolonie auch nicht erwartet. Er hatte nur von Gesetzlosigkeit und Skorbut gehört, zwei Dinge, denen er früher schon begegnet war und für die er wenig übrighatte. Natürlich gab es auch hier Verbrechen und Krankheiten und Schlimmeres, aber es hatte doch jeder florierende Ort mit seiner Fassade aus Höflichkeit und Ehrbarkeit auch seine Schattenseiten.
Gelegentlich sprangen die Kinder, die in der George Street spielten, zur Seite, um einem Ochsengespann auszuweichen, das mit Weizen und Merinowolle hochbeladen war, oder einer Kutsche, die einem der jüdischen Bäcker aus der Pitt Street gehörte. Oder, was selten vorkam, einer Dame. Ein solches Wesen unterbrach die Spiele der Kinder immer, egal, ob sie der Kutsche ausweichen mussten oder nicht. Der Anblick von weißem Musselin und einem hellen Strohhut war ein echter Blickfang, da ging es auch Michael nicht anders. Der Anblick einer Dame, selbst wenn es nur die Frau eines Händlers war, war ein kühlendes Labsal in diesem überhitzten Land der Verbannten und Sträflinge. Man begegnete ihr mit Neid und Neugier, mit Abneigung oder Begierde. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie frisch und rein war wie sauberes Leinen und deswegen eine Augenweide für ihn darstellte, der sonst den ganzen Tag nur Männer, Maurerarbeiten und Hobelspäne sah und nachts eine mit Tinte verschmierte Druckerpresse.
Michael ging jetzt neben dem Gehweg, um einem weiteren Murmelspiel auszuweichen. An manchen Tagen erinnerte ihn alles daran, dass der Preis für den Gewinn der Industriellen das Leiden der Kinder war. Die Opiumhändler würden sich nie mit dem Galgen oder einem stinkenden Gefangenentransport konfrontiert sehen. Es gab hier mehr Land, als ein Ire sich nur erträumen konnte. Und das bedeutete Merinowolle, Zedernholz und Weizen, und Handel mit Indien und China. Das bedeutete Silber, die einzige Währung, die der Kaiser von China für seinen Tee akzeptierte. Alle waren hinter Silber her. War es selbst den wenigen aufrichtigen Männern in Whitehall entgangen, dass der Westen durch ein anregendes Gebräu aufblühte, das es dem Osten ermöglichte, seinen Verstand mit Opium zu betäuben? Michael hatte allmählich den Eindruck, dass England vorhatte, China zu einer Kolonie zu machen, indem es die gesamte Bevölkerung in die Bewusstlosigkeit stürzte.
Michael seufzte wegen der unangenehmen Gedanken, die er sich machte. Annie hätte ihm gesagt, er solle lieber an irgendetwas Schönes denken und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Heute Abend war er auf dem Weg zum Harp and Shamrock, und das war auf jeden Fall etwas Schönes.
4
V IOLETT
Vom oberen Salon aus hatte man die beste Sicht auf den St. Stephen’s Green Park, der an diesem Morgen unter einer dichten Nebeldecke lag. Ernst wirkende Herren mit schwarzen Frackschößen und Spazierstöcken tauchten auf und verschwanden wieder, wie Erscheinungen. Soweit Rhia das beurteilen konnte, handelte es sich jedoch nicht um Geister, sondern um Männer mit durchaus weltlichen Anliegen in ihren Büros und Kanzleien. Es war die Tageszeit, zu der das Licht immer wieder plötzlich ganz hell wurde. Wenn sie die Augen zusammenkniff und sich konzentrierte, würde in den sich ständig verändernden Mustern zwischen Bäumen und Nebel vielleicht ein Motiv auftauchen. Seit dem Brand hatte sie ihren Malkasten nicht mehr öffnen mögen. Ihre Gedanken waren rastlos, und sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ryans Brief lag immer noch auf der Fenstersitzbank, wo sie ihn hatte fallen lassen. Jetzt hob sie ihn wieder auf und las ihn erneut, während sie vor dem Fenster auf und ab ging.
China Wharf, London
7. November 1840
Meine liebe Brigit,
Deine vernichtenden Nachrichten haben mich über die Maßen erschüttert, und ich bedauere zutiefst, dass ich London in diesem Monat nicht verlassen kann. Wie typisch für Dich, den Blick sofort auf all das zu richten, wofür Du dankbar sein kannst: das Leben meines Bruders, das Cottage Deiner Mutter und Deine und
Weitere Kostenlose Bücher