Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
dürfen, wenn er die Verschiffung einer Lieferung Leinen überwachte. Es war aufregend gewesen, den Geruch von nassem Segeltuch einzuatmen und sich so nahe an einen Matrosen heranzuwagen, dass sie den Teer an seinen Kniehosen und den Tabak in seinem Atem riechen konnte. Sie liebte das Knarren von Ledergurten auf Weidengeflecht, wenn ein mit Mahoney-Leinen gefüllter Korb nach dem anderen an Deck eines schlanken Segelschiffs gezogen wurde, das nach London fahren würde. Dieses Geräusch ließ sie erschaudern. Es war das Aufbruchssignal zu einer Reise an einen Ort, der so aufregend und geheimnisvoll war, dass er auch in der Anderswelt hätte liegen können: London. Aber um nach London zu kommen, musste man die Irische See überqueren. Das gefährliche, hinterhältige Meer.
Immer, wenn ihr Onkel zu Besuch nach Dublin kam, bat ihn Rhia, Geschichten aus der Hauptstadt zu erzählen. London hatte Ryan den letzten Schliff gegeben. Connors jüngerer Bruder war schon immer elegant gewesen, aber jetzt war er ausgesprochen mondän. In seinen Erzählungen klang London wie die berauschendste Stadt der gesamten westlichen Welt. Nun würde Ryan in dieser Saison keine Schiffsladung Leinen am China-Kai in Empfang nehmen, und er würde auch keine Käufer für feinsten Batist und schweren Damast Marke Mahoney finden. Natürlich handelte Ryan Mahoney nicht nur mit irischem Leinen. Er importierte außerdem Wolle vom Kontinent, Baumwolle aus Indien und Seide aus China.
Auf ihrem Weg durch den Markt am Hafen suchte Rhia Zuflucht im Vertrauten. Sie nickte den bekannten Händlern mit ihren Karren grüßend zu und wich geschickt den Fischverkäufern aus, die man schon von weitem roch, weil ihre Eimer mit Muscheln, Aal und Heringen gefüllt waren. Das alltägliche Durcheinander aus nichtsnutzigen Bettlern, schlauen Händlern und übernächtigten Passanten beruhigte sie.
Hinter den Fischern, die mit Prostituierten verhandelten, entdeckte Rhia etwas, das sie stehen bleiben ließ. Eine Gruppe von weiblichen Gefangenen, die auf ihre Deportation wartete. Die Frauen waren in einer Reihe zusammengekettet, in ausgebeultes graues Flanell gekleidet und von Polizisten umringt. Sie starrten ins Leere, als hätten sie ihr Land und ihre Familie bereits verlassen. Diese Hoffnungslosigkeit berührte Rhia so tief, dass sie für einen Moment eine von ihnen hätte sein können. Eine schmerzhafte Leere breitete sich in ihrem Magen aus, und das Gefühl war so stark, dass sie beinahe würgen musste. Sie war zu dünnhäutig, und das brachte sie regelmäßig in Schwierigkeiten. Sie konnte diesen Frauen nicht helfen. Daher drehte sie sich weg und dachte an Michael Kelly, den seine Frau und sein Sohn seit beinahe sieben Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Rhia erreichte den letzten Marktstand. Nells Stand mit dem frittierten Fisch. Nell steckte bis zu den Ellbogen in Schuppen. Jedes Mal, wenn sie eine fette Forelle oder einen glitzernden Lachs auf ihren Block niedersausen ließ, schwabbelten ihre Fleischmassen vom Doppelkinn bis zu den Gesäßbacken. Auf ihrem Feuer stand eine Grillpfanne und darin brutzelte etwas, das vor wenigen Stunden noch seine letzte Nacht damit verbracht hatte, den Fluss Liffey hinaufzuschwimmen. Als Nell Rhia bemerkte, lächelte sie ihr mit ihrem lückenhaften Gebiss zu und wischte sich die vernarbten Hände an der Schürze ab.
»Rhia, mein Schätzchen! Du siehst ja halbtot aus. Beweg deinen knochigen Hintern her und iss einen Happen.«
Rhia tat, wie ihr geheißen. Eine Schüssel mit frittiertem Weißfisch wurde vor sie hingeknallt. Nell legte den Kopf schief und zwinkerte ihr zu. »Also, was zum Teufel treibt Rhia Mahoney hier in aller Herrgottsfrüh am Hafenmarkt?«
Rhia brach in Tränen aus. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die aneinandergeketteten Frauen gesehen hatte, hatte sie alles gut weggesteckt. Sofort wurde sie an Nells üppigen Busen gedrückt, der Fischöl und Liebe ausstrahlte. »Na, na, mein Schäfchen, na, na. Hat dir jemand was getan? Oder ist es wegen deinem Dad?«
Rhia nahm einen tiefen Schluck warmes Starkbier, und dann erzählte sie Nell, unterbrochen von Schluchzern, von ihren Sorgen. Nell wusste immer, wie man die Dinge wieder zurechtrückte. Für eine Frau, die Dublin niemals verlassen hatte, war sie über die Welt erstaunlich gut informiert. Außerdem hatte sie die letzte Pockenepidemie überlebt, die die überfüllten Mietshäuser in der Hafengegend wie plündernde Norweger überfallen und ihre gesamte Familie
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