Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Schultern.
Der Polizist, der Rhia zurückgehalten hatte, lächelte ihr zu, ehe er davonging. Sie lächelte zurück. Zum Teufel mit Cailleach. Heute Abend hatten sie noch mal einen Aufschub bekommen.
2
F LANELL
Rhia verließ zu Fuß den Kai, als könnte sie diese Nacht hinter sich lassen. Das Morgenlicht erhellte die maroden Docks, aber die Nacht hing noch im Geruch ihres Haars und der Wolle ihrer Kapuze. Der Krankentransport war von vier Grauschimmeln davongezogen worden, nachdem sich die Türen hinter Brigit geschlossen hatten, die bleich und abgekämpft die Hand ihres Mannes umklammerte. Rhia hatte Tom nach St. Stephen’s Green zurückgeschickt. Nach dieser Nacht voller Aufregung und selbstgebranntem Kartoffelschnaps sah er gar nicht gut aus, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, ihn zu tadeln.
Der Betrieb auf den Docks nahm langsam zu, und das rege Treiben beruhigte sie irgendwie. Rhia zog sich die Kapuze in die Stirn und hoffte, dadurch unsichtbar zu werden, doch ein junger Fischer tippte grüßend an seine Wollkappe und verfolgte sie grinsend mit seinem Blick, bis sie vorbeigegangen war. Es war schwierig, in einem roten Mantel unsichtbar zu sein.
Beim Gehen streifte sie in Gedanken durch die Ruinen der Nacht. Was, wenn der Polizist die Luke zum Keller nicht gefunden hätte? Was, wenn Connor Mahoney gestorben wäre? Der nächste Gedanke ließ sie abrupt stehen bleiben. Es war Samhain , der keltische Winteranfang. Wie hatte sie das nur vergessen können? Die Nacht, in der angeblich Lebende und Tote für einen Augenblick aufeinandertreffen konnten. Wenn Cailleach nicht wegen ihres Vaters gekommen war, wegen wem war sie dann da gewesen? Rhia zog den Mantel fester um sich und beschleunigte ihren Schritt.
Der Geruch von verbranntem Leinen war hartnäckig. Rhia versuchte, nicht an all den Stoff zu denken, der zu Asche geworden war. Der ruinierte Lagerbestand war eine Katastrophe, aber das mit der Versicherungsgesellschaft war ganz offensichtlich ein Missverständnis. Ihr Vater vergaß niemals, seine Raten zu bezahlen. Aber war das von Bedeutung? Er war am Leben. Ihr Streit jedoch würde sie belasten, bis sie sich wieder ausgesöhnt hatten. Sie waren sich zu ähnlich, beide schrecklich dickköpfig. Normalerweise würde ihr Vater ein Schultertuch aus Spitze oder ein Stück Satin mit nach Hause bringen und eingestehen, dass er zu barsch gewesen war und seine Worte bereute. Dann würde sich Rhia für das, was sie gesagt hatte, entschuldigen, und damit wäre die Sache erledigt.
Sie hatte William O’Donahue nie wirklich heiraten wollen. Sie hatte gespürt, was für eine Art Mann er hinter der Fassade seiner gepflegten Ehrbarkeit war, mit dem pomadisierten Backenbart und den maßgeschneiderten Anzügen. Aber sie hatte nicht absichtlich die Verlobung zerstört. Vielleicht hätte sie ihm die Ereignisse jener eisigen Januarnacht nicht anvertrauen sollen, aber das alles war in ihrer Erinnerung und ihrem Herzen immer noch so frisch, selbst nach mehr als sieben Jahren.
Sie hatte den Säugling der Weber zu Mamos Cottage gebracht, voller Ehrfurcht vor seinen winzigen Händchen. Der Besitzer des Weberhauses war wie Connor Mahoney Mitglied bei den United Irishmen. Hierbei handelte es sich um ein Bündnis von protestantischen und katholischen Händlern, die sich gegen den Würgegriff der Engländer ihren irischen Produkten gegenüber wehren wollten. Rhia hatte den Mann herzlos aussehen lassen (was er ja auch war) und selbst gleichzeitig auf unschöne Weise tatkräftig gewirkt. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es ein Unterschied war, ob jemand aufsässig oder ein echter Rebell war. Mamo war natürlich stolz auf sie gewesen. Und William hatte bei ihrem gestrigen Gespräch die ganze Angelegenheit in höchstem Maße geschmacklos gefunden und deutlich gemacht, dass er eher auf Seiten des Grundstücksbesitzers stand als auf Seiten der Pächter. Immerhin hatten sie seit Monaten keine Pacht bezahlt. Rhia dagegen hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn genauso unbarmherzig fand wie jeden anderen Mann, der sein Vermögen durch die Zerstörung ehrlicher Arbeit erwirtschaftete. Ihn hatte es sichtbar schockiert, dass sie ihm widersprach. Und bei der Erinnerung an seinen Gesichtsausdruck musste Rhia lächeln. Sie sollte wohl ein schlechtes Gewissen haben, doch das hatte sie nicht.
Der Gestank des Hafens, der einem die Tränen in die Augen trieb, machte sie wehmütig. Als Kind hatte sie oft gebettelt, ihren Vater begleiten zu
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