Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Sand. Die Berge im Westen sahen gefährlich aus. Das Blau des Himmels war so intensiv, dass er manchmal nicht glauben konnte, dass solch eine Farbe tatsächlich in der Natur vorkam.
Michael konnte nicht behaupten, dass er Sydney vermissen würde, aber in der Kolonie herrschte ein unverhoffter Anarchismus, den er schätzte. Vermutlich war das für einen Ort, an dem die gesetzlosen Außenseiter anderer Gesellschaften zusammengewürfelt worden waren, ganz normal. Oder aneinandergekettet, dachte er ironisch. Außerdem war der Ort für ein Gefängnis verdammt schön.
Die Ladenmädchen der George Street, die jetzt an ihm vorbeidrängten und zu den Cafés am Circular Quay strömten, strahlten Sorglosigkeit aus. Sie hatten die sonnengebräunten Arme untergehakt, trugen ihr Haar offen, und ihr Gang war auf ganz typische Art keck. Liebespaare waren kühner hier, die Kinder lauter und die Männer gewalttätiger. Das Benehmen der Koloniebewohner in der Öffentlichkeit war einzigartig. Sydney war anders als jede Stadt, die Michael zuvor erlebt hatte, und er kannte einige.
In letzter Zeit hatte er viel über die Vergangenheit nachgedacht. Sie schien ihn immer mehr zu verfolgen, je näher seine Heimreise rückte. Als junger Mann und Seemann, der ständig unterwegs war, hatte er jeden Auftrag angenommen, um nur möglichst viel Abstand zwischen sich und das träge Geschäft des Webens zu bringen. Er hatte die Häfen von Europa und Afrika gesehen und war mit Sherry und Tabak aus Bristol bis nach Bombay gekommen. Die Ladung war nicht zum Verkauf bestimmt, sondern für die Keller und Pfeifen der wohlhabenden Gentlemen der East India Company. Dann hatte ihn sein Vater wegen eines Auftrags der Dubliner Firma Mahoney nach Hause gerufen, ehe er wirklich dazu bereit gewesen war. Eine zusätzliche Hand am Webstuhl wurde dringend gebraucht. Dann hatte er Annie getroffen. Ab da fuhr Michael Kelly nur noch in seinen Träumen zur See oder in den Geschichten, die er Thomas erzählte. Er und die kleine Rhia Mahoney bettelten darum, wollten sein Seemannsgarn wieder und wieder hören. Und im Laufe der Jahre wurde das Erlebte immer größer und schöner.
Als Michael einst ein paar Tage in Colaba, einem florierenden Kolonialhafen von Bombay, verbracht hatte, begann er, über die Schattenseiten des Profits nachzudenken. Die schmutzigen Slums hinter den palastartigen Gebäuden der East India Company brachten ihn dazu. Er konnte nicht verstehen, wieso die Kinder in Bombay so wenig zu essen und nur Lumpen anzuziehen hatten, wieso es für sie keine Bücher und Schulen gab und sie auf der Straße schlafen mussten, obwohl doch die Händler in Dublin und London so viel Geld in indische Produkte investierten.
In den Hafenkneipen, wo sich die britischen Händler auf einen Drink trafen, fand Michael heraus, dass die Gentlemen, deren Sherry und Tabak er über den Indischen Ozean begleitet hatte, indische Bauern zwangen, Mohn anzubauen. Es blieb kaum urbares Land zum Nahrungsmittelanbau übrig, wenn jährlich fünftausend Truhen mit jeweils 130 Pfund Opiumharz auf britischen Schiffen von Indien nach China transportiert wurden. Das berauschende Harz der Mohnblüten war der Rohstoff, der den Handel bestimmte, mit Hilfe dessen das Empire seine Vormachtstellung behauptete. Michael konnte sich kaum vorstellen, wie viele Mohnblüten das waren, und wie viele Bauern und ihre Kinder man brauchte, um all das im Namen der britischen Wirtschaftsexpansion zu erreichen.
Das wahre Ausmaß des Verbrechens begriff er, als er in St Giles auf eine Opiumhöhle stieß. Dort sah er zum ersten Mal einen ausgezehrten Mann, ein lebendes Gerippe, seiner Seele beraubt. Seitdem hatte Michael viele davon gesehen, seit er mit einer Schiffsladung Verdammter in See gestochen war. Außerdem war er Zeuge von echten Verbrechen geworden, die von reichen Industriellen begangen wurden und viel schlimmer waren als die Taten der sogenannten Kriminellen, die die Stadt bevölkerten. Das schlimmste Verbrechen, dessen sich so viele hier schuldig machten, war, arm geboren worden zu sein. Es lag nicht nur am Heimweh und der Entbehrung, dass Michael zu einem stillen Feind der Geldgier geworden war. Der Mann, der ihn ins Gefängnis geschickt hatte, angeblich ein ehrenwerter Händler, transportierte Opium von Kalkutta nach Kanton. Dort nahm er seine Ladung an chinesischem Tee auf und verschiffte ihn nach London und Dublin. Diese gewissenlosen Geschäftemacher wollte Michael zu Fall bringen.
Das Reisen
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