Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
leiser Stimme, doch die Frauen hatten Respekt vor Miss Hayter, mehr als vor allen anderen Wärterinnen. Vielleicht, weil sie so klein und körperlich wenig bedrohlich war, oder weil ihr das Wohlergehen der Häftlinge ernsthaft am Herzen zu liegen schien, oder weil man den Eindruck hatte, dass sie direkt in einen hineinsehen konnte, wenn sie mit einem sprach. Alle mochten sie und wollten von ihr gemocht werden, Rhia eingeschlossen.
»Sie haben Besuch, Mahoney.«
Antonia! Rhia war beinahe leicht ums Herz, als sie ihre Kappe aufsetzte und die Bänder der Schürze verknotete. Miss Hayter wartete ruhig und musterte sie mit ernstem Gesichtsausdruck. »Wie ich höre, sind Sie Zeichnerin, Mahoney?«, sagte sie.
»Ich wäre es fast geworden.«
»Vielleicht wird Ihnen Ihre Fähigkeit nützen, wenn wir segeln.«
»Wenn wir segeln?«
»Ja, warum, hat man es Ihnen noch nicht gesagt?«
»Was gesagt?« Ein Frösteln kroch Rhia den Rücken hinauf.
»Diese Abteilung ist dem nächsten Transport zugeteilt worden, der Rajah , die am vierten April ablegen wird. Ich selbst werde die zuständige Oberin auf dem Transport sein.«
Rhia öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Miss Hayter beobachtete sie. »Es muss Ihnen überraschend schnell vorkommen, aber das geschieht manchmal. In Australien werden Frauen gebraucht, die lesen und schreiben können, und vor allem Frauen mit einem Handwerk.«
»Auch London braucht Frauen mit einem Handwerk, Miss Hayter, und Frauen, die lesen und schreiben können.«
Miss Hayter wirkte betroffen.
»Welches Datum haben wir heute?«, flüsterte Rhia.
»Den sechsundzwanzigsten März.«
»Dann bleiben mir weniger als zwei Wochen.«
Miss Hayter nickte. »In Sydney gibt es viele Möglichkeiten, und für jemanden wie Sie …« Rhia bekam den Rest gar nicht mehr mit. Sie wollte kein Lob auf die Kolonie hören, sondern konnte nur daran denken, dass zwei Wochen für einen Einspruch nicht genügten, dass sie nicht gerettet werden würde.
Sie folgte Miss Hayter in den Speisesaal, wo die Besucher warteten. Sie suchte unter den Freien nach Antonia. Die Menschen der Welt dort draußen waren wie farbige Pinselstriche: ein roter Schal, ein grüner Hut, blaue Kniehosen.
Doch da war keine Antonia.
Dann sah sie Mr Dillon. Vermutlich war dies nicht sein erster Besuch in einem Gefängnis, denn er wirkte völlig entspannt. Er besaß genug Anstand, um den Blick nicht über ihr Sträflingsgewand wandern zu lassen, und er verlor auch keine Bemerkung über ihr Aussehen. Mühsam rief sie sich das Bibelzitat der vergangenen Nacht in Erinnerung. Sein Blick hielt ihren fest.
»Guten Morgen, Miss Mahoney.«
»Guten Morgen, Mr Dillon.« Sein Gesicht wirkte anders. Vielleicht hatte sie es auch einfach nie genauer betrachtet. Er war irgendwo zwischen Anfang und Mitte dreißig, schätzte sie, und einige blasse Sommersprossen zierten die helle Haut seiner Nase, der Wangen und Stirn. Seine Haare waren so schwarz wie ihre eigenen und mit einem Band zurückgebunden. Seine Augen waren eine Mischung aus Haselnuss und Moos, wie ein Waldboden. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an und holte aus irgendeiner verborgenen Tasche seines Mantels sein Notizbuch.
»Ich habe Nachricht von Ihrer Mutter. Ich habe ihr geraten, ihre Korrespondenz an meine Adresse zu schicken. Außerdem habe ich versprochen, selbige ungeöffnet und sicher an Sie zu übergeben. Ich habe beide Versprechen gehalten.« Er schob den Brief, in seiner Hand verborgen, über den Tisch zu ihr hinüber, und Rhia hielt den Blick auf sein Gesicht gerichtet.
»Sieht irgendjemand zu?«, fragte sie leise, als ihre Hand die seine berührte. Er schaute sich im Raum um und schüttelte dann den Kopf, ehe er seine Hand zurückzog, so dass sie den Brief ihrer Mutter in der Schürzentasche verschwinden lassen konnte. Sie wechselten einen verschwörerischen Blick. »Das können wir ganz gut, was?«, sagte sie. Er nickte, doch sein Lächeln verschwand rasch wieder.
»Ich werde gleich zum Punkt kommen. Ich habe bei der Britischen Krone Einspruch erhoben, doch das ist ein langwieriger Prozess, und ich fürchte, es könnte Monate dauern. Meiner Meinung nach hat man es absichtlich so aussehen lassen, als seien Sie dieses Vergehens schuldig, und ich versuche gerade, Mr Montgomery davon zu überzeugen. Er sagt, seine Frau ist sich sicher, Sie hätten den Schlüssel zum Lager genommen und den Stoff gestohlen.«
»Aber das stimmt nicht! Mrs Montgomery hat den Schlüssel
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