Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
kurzen Blick zu. »Uns bleibt keine Zeit mehr.«
Rhia nickte. Sie wusste nicht, ob sie würde sprechen können. »Mr Dillon, würden Sie bitte für mich schreiben, an …« Er nickte, noch ehe sie ihren Satz beendet hatte.
»Ich werde Laurence schreiben«, sagte er rasch.
»Nein, nicht an Laurence, an meine Mutter.«
»Ja, natürlich.« Er zog sein Notizbuch und einen Bleistiftstummel heraus und kritzelte die Adresse, die sie ihm nannte, auf ein Blatt. Sie konnte ihre Augen kaum von dem Papier abwenden – was gäbe sie dafür, etwas zum Schreiben zu haben. Entweder stand ihr der Wunsch ins Gesicht geschrieben, oder Mr Dillon konnte ihre Gedanken lesen. Er sah rasch zu den Wärtern hin, ehe er ein Bündel Seiten aus seinem Buch riss. Als er ihre Hand schüttelte, drückte er sowohl Papier als auch Stift hinein. Sie schob beides geschickt in ihren Ärmel hinauf, und sie tauschten ein kurzes Lächeln. Die Ironie dieser Handlung entging keinem von beiden: Sie verhielt sich wie eine Kriminelle. Rhia flüsterte »Danke«, bevor er zielstrebigen Schrittes davoneilte. Dann drehte er sich noch einmal um und sah sie an, als man sie grob ins dunkle Innere des Wagens schob. Die Entschlossenheit in seinem Gesicht gab ihr Trost. Egal, welch Misstrauen sie ihm gegenüber zuvor gehegt hatte, heute war er der König der Anderswelt. Ihr blieb nichts übrig, als ihm zu vertrauen; er war ihre einzige Hoffnung.
Als sich die Tür des Gefängniswagens schloss, erhaschte Rhia einen letzten Blick auf den Ort, der ihr einst so voller Möglichkeiten erschienen war. Leuchtende Büschel früher Narzissen hingen bereits aus den Fensterkästen entlang der Newgate Street, Frühjahrsboten. Die Wälder um Greystones herum würden bald von einem Teppich aus Glockenblumen bedeckt sein, und Hasenkinder würden aus ihrem Winterbau hoppeln. Man würde Vorbereitungen für die Frühjahrs-Tag-undnachtgleiche treffen und ein spezielles, ungefärbtes Tuch für die Feier herstellen. Rhia konnte das Salz in der Luft fast schmecken, als sie sich die Küste vorstellte und Thomas Kelly, wie er an seinem Webstuhl saß und aufs brodelnde Meer hinausschaute. Sie wünschte sich schmerzlich, in der Vergangenheit zu sein, sicher vor der Zukunft. Michael Kelly würde daheim bei seiner Familie sein, ehe sie in Sydney ankam. Der Gedanke traf sie wie ein Hieb. Sie zog sich ihren Umhang übers Gesicht und ließ den Kopf hängen. Wenn der heutige Tag ein Stoff wäre, dann musste es sich um Barege handeln. Sie starrte blind durch das luftige Gewebe hindurch, und das Stroh auf den Bodenplanken wirkte nicht mehr ganz so starr vor Dreck und die unverhohlene Neugier der anderen Sträflinge nicht mehr ganz so aufdringlich. Es dämpfte den feindseligen Blick der zerlumpten Frau ihr gegenüber, die zischte »bist ’n feines Stück, was? Wenn mal die braven Löckchen geschoren und die edlen Kleider weg sind, wirste kein bisschen besser sein wie wir andren.«
33
S ACKLEINEN
14. März 1841
Alles ist grau. Die Streifen Himmel zwischen den Gitterstäben des kleinen Fensters hoch oben, die Gefängniskleider aus rauem Wollstoff, die Wände, das Material, das wir vernähen. Sogar das Essen ist grau. Die Welt hat ihre Farbe verloren. Wenn ich mich selbst in einem Spiegel sehen könnte, dann wäre mein Gesicht sicher farblos. Ich kann es fühlen. Ich verzehre mich ebenso sehr nach Smaragdgrün, Indigoblau und Maisgelb wie nach Butterhörnchen und Marmelade. Die Zeit wird vom hallenden Schritt der Wärterinnen auf den Stahlstufen gemessen und vom Rasseln der Schlüssel.
Ich bin allein. Einmal am Tag dürfen wir auf den Hof hinunter, eine Abteilung nach der anderen. Alle in der Millbank-Strafanstalt werden England verlassen; deshalb sind wir hier, doch ich kann nicht gehen. Ich kann kein weiteres Meer überqueren. Es gibt hier Frauen, die seit Monaten darauf warten, dass man sie einem Transport zuteilt. Ich bete darum, dass Mr Dillon an meinen Einspruch denkt. Und doch bete ich nicht wirklich, obwohl ich es dem heiligen Patrick versprochen hatte. Selbst jetzt. Stattdessen lausche ich den geflüsterten Gebeten der Vergessenen, doch sie zeigen sich mir nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir die Gesellschaft von Geistern herbeiwünschen würde. Ich war so froh, als sie mich in Ruhe ließen. Ich weiß noch, dass Du damals gesagt hast, ich hätte sie vertrieben. Dass Geister, genau wie Menschen, spüren, wenn sie nicht willkommen sind.
Mein Haar ist weg bis auf einen stacheligen
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