Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
um einen unvorsichtigen Knöchel schlingen. Eine Frau erstarrte auf halber Strecke und wurde zuerst freundlich gebeten und schließlich scharf angewiesen weiterzuklettern, bis sie sich endlich tränenüberströmt oben über die Brüstung hievte.
Schließlich waren die Ruderboote leer, und alle Frauen hatten dank Mut oder Nötigung das Deck erreicht.
34
H ANF
Nelly flüsterte immer noch inbrünstige Ave-Marias, als sich die Letzten der Frauen auf dem Hauptdeck versammelten. Rhia zählte jedes Gebet, als sei es eine Perle im Rosenkranz, bis sie den Überblick verlor. Jetzt gab es keine Chance auf Freiheit mehr. Sie sah hinauf in den Himmel, denselben Himmel, der sich über die Cloak Lane und Greystones erstreckte, und doch so gar nicht derselbe Himmel war. Dieser bleierne Himmel war die Decke eines weiteren Gefängnisses.
Drei Masten zeichneten sich als Silhouette am Himmel ab. Rhia zählte die Segel. Zählen half, es gab einem etwas zu tun. Es waren wohl insgesamt sechs, wobei sie sich nicht ganz sicher sein konnte, weil sie aufgerollt waren. Rhia wollte sich nicht auf dem Rest des Schiffes umsehen, das sie hinfort in eine andere Welt bringen würde. In die Anderswelt. Männer hingen in der Takelage jedes Mastes wie Affen in einem Baum. Rasch senkte sie nun doch den Kopf, denn ihr wurde schwindelig.
Es gab zu viele Matrosen, um sie zählen zu können, während sie barfüßig herumwieselten. Zuerst schienen sie zu beschäftigt, um zu bemerken, dass einhundertfünfzig Frauen auf dem schaukelnden Deck standen, doch bei genauerer Beobachtung war dies gar nicht der Fall. Die Frauen wurden geschickt und fachmännisch bewertet. Jedes Mal, wenn Rhia den Blick eines Seemanns auffing, schaute er blitzschnell weg, als hätte der sie nur zufällig gestreift. Die Männer waren ein gemischter Haufen: von gertenschlank bis kugelrund, von glatter Jugend bis zu wettergegerbten Seebären.
Rhia zählte acht Gefängnisbedienstete und Wärterinnen, allesamt Frauen, die in einer Gruppe beieinanderstanden und jemandem lauschten, der möglicherweise ein Schiffsoffizier war, auch wenn er keine Seemannskleidung trug. Er wirkte nicht wie ein Passagier. Miss Hayter hatte ihnen erklärt, dass es eine kleine Anzahl an Passagierkabinen auf der Rajah gab. Der Mann hatte ein autoritäres Gebaren an sich, das so steif war wie sein schlichter brauner Mantel. Miss Hayter lauschte ihm brav, als sei er ihr Vorgesetzter.
Rhia hätte sich gegen die nagende Furcht am liebsten zusammengekrümmt, doch sie schob die Hände tief in die Taschen ihrer Schürze und konzentrierte sich darauf, ihre Beine dem Schwanken des Schiffes anzupassen. Sie versuchte Margaret unter den Frauen auszumachen. Ihr karottenrotes Kräuselhaar war normalerweise leicht zu entdecken. Sie stand hinter der dunklen Agnes, beinahe von Noras beträchtlichem Umfang verdeckt. Ehe Rhia jedoch Blickkontakt mit ihr aufnehmen konnte, löste sich das Grüppchen der Aufpasser auf, und die Häftlinge wurden in Reihen aufgestellt und quer über das Hauptdeck eine kurze Treppe zu einem erhöhten Deck hinaufgeführt, das jemand als Achterdeck bezeichnete.
Vom Achterdeck aus konnte man den Rest des Schiffes überblicken, und es war der perfekte Ort, um das darunterliegende Deck zu beobachten. Rhia waren die Dinge zum Zählen ausgegangen. Also konzentrierte sie sich auf Details, richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Feinheiten von Holz und Messing, angefangen bei den Geländern, der Reling und den Instrumenten, bis hin zu den breiten Eichenplanken des Decks. Alles glänzte und roch nach Leinöl und Wachs. Es war schwer zu glauben, dass dieses strahlende Schiff der Obhut von Männern unterstand – es war so sauber und gebohnert, als würde eine Armee von Mägden darauf wohnen.
Die Gefängnisangestellten und Miss Hayter flankierten die Reihen der Frauen. Eine der Wärterinnen las etwas vor, was einer Schriftrolle glich, und sah dabei immer wieder auf, um den Blick über ihre Gesichter schweifen zu lassen. Am anderen Ende des Decks stand ein kleines Grüppchen Männer, einige davon in Seemannskleidung. Der Älteste von ihnen war ein sauertöpfisch dreinblickender Geistlicher. Er unterhielt sich mit dem Herrn im braunen Mantel. Vielleicht handelte es sich bei diesem auch um einen Vertreter der Justiz? Er besaß dieselbe mürrische Ausstrahlung wie der Ankläger, der Rhia verurteilt hatte. Den Kapitän konnte man leicht an seinem zerbeulten und altmodischen Dreispitz und den geflochtenen
Weitere Kostenlose Bücher