Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
verwahrt. Sie scheint zu glauben, dass es sonst nur das Glücksspiel fördern würde. Seit ich zwei ganze Tage unter Deck verbracht habe, weiß ich, dass ein Schluck Rum einen Kamm kostet und eine Orange einen silbernen Fingerhut wert ist.
Der Quilt für die Quäker-Frauen nimmt langsam Gestalt an. Uns blieb ja zwei Tage lang nichts anderes übrig, als zu nähen. Die Blumen und Vögel auf meinem Stoff würden sich perfekt dazu eignen, ausgeschnitten und auf das Mittelstück appliziert zu werden. Wenn ich auf irgendeine bedeutsame Art zu dem Quilt beitragen möchte, dann sollte ich ihn anbieten. Ich habe mehr als alle anderen von Antonias Freundlichkeit profitiert.
Manchmal frage ich mich, ob Du wohl hier bist, aber das ist wahrscheinlich nicht der Fall. Es klingt, als seist Du viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Vater zu quälen. Es war schon ein bisschen verrückt zu glauben, Du wärst irgendwie für das verantwortlich, was mir widerfahren ist. Ich habe Dich dafür gehasst, doch gleichzeitig habe ich mich weniger allein gefühlt. Jetzt könntest Du mir nicht mehr vorwerfen, ich sei verwöhnt und träge!
Am nächsten Morgen beugte Albert sich mit einem Muschelschaber über die hintere Reling und kratzte die grauen Schalen ab, die dem Schiff das Aussehen eines riesigen Krustentieres verliehen.
»Tag, Mahoney.« Er grinste sein schiefes Grinsen, doch es fehlte ihm irgendwie an Intensität. Seine Haare klebten in Strähnen zusammen, als wäre er im Meer schwimmen gewesen, und seine Füße waren sandig. Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an. Es musste ausgesprochen werden, aber keiner war dazu bereit.
»Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit …«, setzte Rhia an.
»Nein, seither nich mehr.« Alberts Schultern sackten nach vorn. Er schaute sich unauffällig um und winkte sie dann in eine Kammer, in der eine Menge Segeltuch gelagert wurde. »Ich hab in den letzten Tagen ein bisschen extra gelauscht«, erklärte er. »Wie’s aussieht, gehen alle, die was in Ruhe besprechen wollen, aufs Hüttendeck. Wardell hat dem Kapitän erzählt, dass er Sie in der Nacht an Deck gesehen hat.«
Rhia nickte. Damit hatte sie gerechnet. »Vielleicht werde ich angeklagt.«
»Die glauben nicht, dass Sie’s waren. Wardell hat noch jemand anderen herumschleichen sehen, aber er konnte es nich richtig erkennen. Zu dunkel.« Albert sah ihr direkt in die Augen. »Ich hab auch jemanden gesehen.«
»Wen?!«
Albert senkte den Blick. »Kann ich nich sagen – zu dunkel.«
»Aber ich habe Laurence doch selbst noch gesehen! Er kam früh am Morgen in meine Kajüte …«
Albert schüttelte den Kopf »Nein, das kann nich sein. Der Arzt sagt, er is gegen Mitternacht gestorben – angeblich kann er das irgendwie am Körper erkennen.«
Offensichtlich hatte sie die Fertigkeit verloren, zwischen den Lebenden und den Toten zu unterscheiden. Albert betrachtete sie mit seltsamem Gesichtsausdruck.
»Es tut mir leid, Albert, ich war diejenige, die dich an dem Morgen zu Laurence’ Kajüte geschickt hat …«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich wär auch so gegangen. Hab ihm manchmal sein Wasser gebracht. Ich mochte ihn.«
»Was ist denn genau passiert? Wie …?« Rhia versuchte immer noch sich daran zu erinnern, was Laurence gesagt hatte, abgesehen davon, dass er sie nicht heiraten konnte. Jetzt wusste sie zumindest, weshalb.
»Brieföffner«, erklärte Albert. »Der Arzt vermutet, er is aufgewacht, weil jemand in seiner Kajüte rumgeschlichen is – außer er hat denjenigen selbst reingelassen, weil er ihn erwartet hat … er hatte sein Nachtgewand an … es war voller Blut …« Albert versuchte nicht zu weinen, und Rhia ging es ähnlich. Plötzlich fiel ihr das Porträt wieder ein. »Hast du zufällig gesehen, ob da … lag da eine fotogene Zeichnung auf seinem Tisch?«
»Eine was?«
»Eine fotogene Zeichnung – wie ein Gemälde von einer Gruppe von Männern.«
»Ach, das. Das hab ich gesehn, als ich ihm das Salz gebracht hab.«
»Das Salz?«
»Am Tag vorher. Ich hab mich gefragt, wozu er eine Schüssel voll Salz braucht, also hat er mir das Bild gezeigt. Es war nich mehr da, als ich ihn gefunden hab. Das weiß ich, weil ich mich nämlich umgesehen hab. Ich wollt wissen, wie es passiert sein könnte …« Er bemühte sich immer noch, tapfer zu sein, dieser Junge im Leben eines Mannes. Wieder musterte er seine Füße und fuhr mit dem großen Zeh einen Riss im Boden nach, doch Rhia hatte die Tränen gesehen. »Ich hab’s nie
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